Präsenz: Beschreibt das Sich-Einlassen als ganzer Mensch auf das Geschehen zwischen Therapeut und Patient im ›Hier und Jetzt‹. Der Therapeut lässt sich von der Wirkung, die der Patient auf ihn hat, berühren, bewegen und beeinflussen.
(…) Sich für einen anderen Menschen zu interessieren bedeutet, sich für das Sein und Wachstum des anderen zu interessieren mit seiner ganzen Erkenntnis, die man durch genuines Zuhören erhält, bemüht man sich, dem anderen dabei zu helfen, im Augenblick der Begegnung ganz lebendig zu werden. (…)61
Präsenz heißt auch, dass der Therapeut seine persönlichen Wahrnehmungen, Beobachtungen, Reaktionen, Gefühle etc. auf die gegenwärtige Situation bezogen mitteilt. Damit unterstützt er die Achtsamkeit des Patienten für dessen Erleben und öffnet sich selbst für den Austausch, unter Umständen auch darüber, wie der Patient ihn wahrnimmt. Diese authentische Begegnung auf Augenhöhe ist auch für den Therapeuten eine Möglichkeit zu lernen und zu wachsen, der Therapeut wird davon ebenso verändert wie der Patient.
Hüten des Dazwischen:62 Der Therapeut ›hält‹ den Raum für den Dialog und lässt ihn damit geschehen. Das erfordert seine Achtsamkeit, Vertrauen und Zutrauen in den Prozess der Figurbildung und damit den Verzicht auf Steuerung oder Kontrolle. Das Dazwischen ist das, was entsteht und was mehr ist als die Summe der Beteiligten.
Eine ›echte‹ Ich-Du-Begegnung entspricht dem vollen Kontakt im Kontaktzyklus, dem Einander-Erkennen in der jeweiligen Einzigartigkeit, und befriedigt das menschliche Verlangen, wirklich gesehen zu werden.
In der Alltagserfahrung sind solche Momente eher selten, (Gestalt-) Therapeuten lernen diese Form der Kommunikation in ihrer Ausbildung. »Dialogue is something done rather than talked about.«63 schreibt Yontef und verweist damit auch darauf, dass ›Dialog‹ einerseits eine therapeutische Technik ist, die andererseits paradoxer Weise nicht wie eine Technik angewandt werden kann, weil sie auf einer existenziellen Haltung der Welt gegenüber beruht, die durch persönliches und professionelles Lernen erworben werden muss.64 Ohne eine dialogische Haltung ›funktioniert‹ die dialogische Technik nicht.
Neben der persönlichen Herausforderung, die in dem eben Gesagten für den Therapeuten als Mensch und Vertreter einer Profession liegt, ist die Übertragung des dialogischen Ideals in die therapeutische oder beraterische Praxis auch deshalb differenziert zu sehen, weil es sich bei Therapie und Beratung/ Coaching um eine zunächst funktionale Beziehung handelt, die asymmetrisch ist, also nicht auf der uneingeschränkten Gegenseitigkeit eines Ich-Du-Dialogs beruht. Es ist eine professionelle Beziehung, in der der eine den anderen für seine professionelle Kompetenz bezahlt. Dieser professionelle Rahmen ist das Umfeld, in dem die persönliche Beziehung gleichsam stattfindet und der sie durch seine Regeln begrenzt und schützt, sollte einer der Beteiligten das vergessen.
Funktionale Beziehungen im Organisations-Kontext
Zwei Beziehungsachsen sind für den Coachingprozess von zentraler Bedeutung: Die Achse Coach-Organisation und die Achse Coach-Coachee. Ich will zunächst den funktionalen, also zweckorientierten Aspekt dieser beiden Achsen betrachten.
Der Coach und die Organisation
Im Fall von Coaching ist der eine, der den anderen bezahlt, häufig eine Organisation, 65 repräsentiert durch einen oder mehrere ihrer Funktionsträger in ihren jeweiligen Rollen. Das Beziehungsgeschehen zwischen dem Coach (Nicht-Mitglied der Organisation) und dem oder den Mitgliedern der Organisation (Manager, Personalentwickler, Einkäufer) wird unter anderem bestimmt durch die jeweiligen Rollenerwartungen und -verständnisse der Beteiligten und die expliziten und impliziten Regeln, die die Organisation sich gegeben hat, wenn es z. B. um den Einkauf von Beratungsleistung geht.66
Wenn wir uns weiterhin an der Differenzierung zwischen funktionaler und persönlicher Beziehung orientieren, dann gehören Auftragsklärung und Vertragsgestaltung zur Ebene der funktionalen Beziehung, die, selbst wenn der Coachee nicht Teil des Geschehens ist, doch als Element des Hintergrunds die persönliche Beziehung zwischen Coach und Coachee beeinflusst:
Je deutlicher der Coach sich gegenüber der Organisation in seiner unabhängigen Expertenrolle »am Rand« positioniert, umso leichter kann er auf der Ebene der persönlichen Beziehung als Dialog-Partner agieren. Das heißt, er kann dem Organisations-Mitglied Coachee fremde, neue Informationen, Sichtweisen und Erfahrungen ermöglichen, die dieser wiederum der Organisation zur Verfügung stellen kann. Versteht sich der Coach eher als Dienstleister, der im Rahmen eines »Beauty Contests« ausgewählt wird, so wie er inzwischen von vielen Organisationen gesehen und beauftragt wird, stellt er einen Service zu Verfügung und überlässt es den Organisationsvertretern, den Inhalt und die Art und Weise seiner Leistung zu bestimmen. Er bringt dann, vereinfacht gesagt, im Auftrag der Organisation den Coachee wieder auf Linie oder macht ihn »fit for management«.
Für die persönliche Beziehungsebene zwischen Coach und Coachee kann das entweder heißen, dass sich die hierarchische Asymmetrie auch auf die persönliche Ebene erstreckt (der Coach als Erfüllungsgehilfe des Managements) oder umgekehrt, dass der Coach als nicht ausreichend unterschiedlich vom Coachee wahrgenommen wird, im Sinne von »wir führen doch beide nur die Anweisungen von oben aus.«
Der Coach und der Coachee
Berater, die aus dem therapeutischen Setting kommen, nehmen häufig an, dass das primäre Ungleichgewicht in der funktionalen Beziehung zwischen Coach und Coachee dadurch entsteht, dass es der Coachee ist, der um Hilfe bittet, weil er »ohne fremde, professionelle Hilfe nicht mehr angemessen weiter zu kommen glaubt (…)«67 Tatsächlich sieht sich der externe Coach inzwischen mindestens genauso häufig mit potenziellen Coachees konfrontiert, die ihn ihrerseits als verordneten oder empfohlenen Dienstleister verstehen, von dem sie erst einmal wissen wollen, was er anzubieten hat. Aus der Position ihres hierarchischen Status und dessen Ausdruck in der Organisation agieren sie zunächst »von oben nach unten« und nicht auf Augenhöhe. Edward Nevis nennt die Anforderungen, die dieser Umstand an den Berater stellt, »Standing up«-Kompetenz, 68 was neben anderem heißt, gestaltend im unvertrauten Umfeld mit Klienten arbeiten zu können, die zudem erwarten, dass der Berater Beweise seiner Kompetenz liefert, bevor sie bereit sind, mit ihm zusammen zu arbeiten. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Ebene der funktionalen Beziehung von zentraler Bedeutung für das Coaching ist und sich, anders als in der Therapie, nicht fast von selbst versteht.
Die persönliche Beziehung im Organisations-Kontext
Während die Beziehung zwischen Coach und Organisation hauptsächlich am Zweck orientiert ist, ist für die wirkungsvolle Zusammenarbeit von Coach und Coachee vor allem die persönliche Ebene von Bedeutung.
Das Ideal in der therapeutischen Beziehung ist die Begegnung von »Mensch zu Mensch«, wobei mit Mensch immer »der ganze Mensch« gemeint ist. Dieser Beziehung wird Heilkraft zugesprochen, 69 weil durch das Erleben einer anderen Art von Beziehung alte Beziehungsmuster aufgelöst werden können. Coaching hingegen adressiert den Menschen vornehmlich in seiner professionellen Rolle als Mitglied in einer Organisation.
»Eine Person, die (…) die Rolle eines Mitglieds übernimmt, verpflichtet sich, bestimmten Verhaltenserwartungen gerecht zu werden. Das bezieht sich, je nach Organisation, auf weitere oder engere Verhaltensbereiche (…) Ein autonomes Individuum verzichtet in gewissen Bereichen des eigenen Lebens darauf, seinen theoretisch gegebenen Freiraum zu nutzen. Es lässt sich seine Unberechenbarkeit (»Nicht-Trivialität«), d. h. die Nicht-Erwartbarkeit seines Verhaltens, gegen ein mehr oder weniger angemessenes Schmerzensgeld abkaufen.«70
Auftrag des Coaching ist es, die individuellen Handlungsmöglichkeiten des Coachee in seiner Auseinandersetzung mit diesen Verhaltenserwartungen zu erweitern, ohne diese komplett in