Deshalb halte ich diesen als »natürlich empfundenen« Rhythmus auch für geeignet, die Struktur eines idealtypischen Coaching-Prozesses darzustellen:
Die Phase der Empfindung, die noch nicht gerichtete Aufmerksamkeit, kann mit dem unverbindlichen Kennenlernen von Coach und Coachee verglichen werden, an dessen Ende die Entscheidung steht, miteinander zu arbeiten. Beim darauf folgenden Zielvereinbarungs- und Auftragsklärungsgespräch mit der Personalentwicklung und/oder der Führungskraft werden Anlass und Ziel des Coachings bewusst gemacht. Durch diese Fokussierung wird zielgerichtete Energie frei. In der daran anschließenden Sitzung, der ersten von Coach und Coachee, wird der Kontrakt, das Arbeitsbündnis, geschlossen und mit der gemeinsamen Arbeit begonnen, im Zyklus beschrieben als Handlung. Die Phase des »Kontakts« beschreibt Martina Gremmler-Fuhr so:
»Sensorisches Bewusstsein und Aktion fließen zusammen, während sich der Organismus mit der Figur befasst. Er assimiliert Objekte aus der Umwelt, nachdem er sie teilweise zerlegt hat, um sie erfassen zu können und das für ihn Brauchbare aussortieren zu können. Organismus und Umwelt werden in diesem Austauschprozess verändert. Kontakt wird in diesem Schritt nicht auf den Sonderfall der Bedürfnisbefriedigung reduziert, sondern bezieht sich auch auf das, was möglich ist (…)«49
Übersetzt in die Sprache des Coaching heißt das, der Coachee »zerlegt« in den folgenden Sitzungen seine Fragestellungen und Probleme mit Hilfe des Coaches in ihre Einzelteile, um sie besser verstehen zu können, sie auf ihren tatsächlichen Problemgehalt zu überprüfen und ihre Bedeutung für sich zu beschreiben. Daraus können Lösungen und Antworten entstehen. Wenn wir den Zyklus des Erlebens als Modell für den ganzen Coachingprozess verwenden, steht die Phase des »Kontakts« für eine ganze Reihe von Coaching-Sitzungen, in denen »am Thema« gearbeitet wird. In der vorletzten oder letzten Sitzung des Prozesses ziehen Coach und Coachee ihr Resümee, sie lösen sich voneinander, und durch die Rückschau erhält der gesamte Prozess noch einmal Bedeutung. Mit dem Evaluations-Treffen, gemeinsam mit der Führungskraft und/oder der Personalvertretung, wird der Coaching-Prozess beendet, der Organismus zieht seine Aufmerksamkeit von der Figur zurück, die Gestalt wird geschlossen.
Abb. 2: Der Kontaktzyklus als Struktur für den Coaching-Prozess
Ein idealtypisch verlaufender Coaching-Prozess berücksichtigt demnach den Umstand, dass es einer Orientierungsphase bedarf, in der zum einen der Fokus (die »Figur«) der Problem- oder Fragestellung herausgearbeitet werden kann und sich der Coachee (der »Organismus«) als abgegrenzter Teil der Organisation (des »Umweltfeldes«) mit dieser Fragestellung, diesem Problem auseinandersetzt und es löst oder beantwortet und diesen Vorgang verarbeitet und integriert. Der Zyklus des Erlebens beschreibt die Phasen, die durchlaufen werden müssen, damit bewusst eine Erfahrung gemacht, abgeschlossen und integriert werden kann. Gestalttherapeuten und Coaches
»(…) sind hier, um den Prozess des Wachstums zu fördern und das menschliche Potenzial zu entfalten. Wir reden nicht von augenblicklicher Freude, von augenblicklicher Wachheit der Sinne, von sofortiger Heilung. Der Prozess des Wachstums ist ein Prozess, der Zeit braucht.«50
Wenn ich auch in den vorherigen Abschnitten wiederholt das »Idealtypische« des Kontaktzyklus als Struktur für ein Coaching herausgehoben habe, möchte ich im Folgenden anhand der einzelnen Phasen darauf eingehen, weshalb es mir sinnvoll erscheint, sich in der Rolle des Prozessverantwortlichen eher am Ideal zu orientieren statt sich (zu) früh an die Anforderungen der (organisationalen) Umwelt anzupassen.51
Kennenlernen
Ein zunächst unverbindliches Kennenlernen von potenziellem Coach und potenziellem Coachee ist Ausdruck der selbstverantwortlichen Wahlfreiheit auf beiden Seiten und legt so den Grundstein für das vertrauensvolle und vertrauliche Arbeitsbündnis. Nur vor dem Hintergrund eines erlaubten »Nein« zu einem bestimmten Coach oder Coachee hat das »Ja« Gehalt.
Eine im Zusammenhang mit dem ›Kennenlernen‹ immer wieder auftauchende Frage ist die, inwieweit der potenzielle Coach auch schon bei dieser Gelegenheit anfangen kann (oder soll) zu arbeiten. Abgesehen von Situationen, in denen der Ratsuchende tatsächlich in einer krisenhaften Situation ist, die sowieso andere Interventionen nötig macht, ist das zum einen sicher abhängig vom persönlichen Stil und dem jeweiligen Berater(selbst)verständnis. Zum anderen berührt diese Frage zwei Aspekte: Den Wunsch zu helfen und/oder Marketing-Überlegungen. Liefert der Coach gewissermaßen eine Probe-Arbeit ab, kann das dem Coachee unter Umständen die Entscheidung für oder gegen ihn erleichtern. Wird aus den Schilderungen des potenziellen Coachee deutlich, dass dieser sich in einer für ihn schwierigen Situation befindet, verspüren empathische Berater häufig den Drang, unmittelbar helfend einzugreifen. In beiden Fällen scheint mir zur Orientierung eine Verortung im Kontaktzyklus sinnvoll: Der Prozess, von dem noch nicht klar ist, ob es ein gemeinsamer wird, ist ganz am Anfang. Es gibt noch keinen Auftrag (keine Figur) und auch kein Arbeitsbündnis (gerichtete Energie), das ein Eingreifen des Coaches stützen würde. Eine »Probe-Intervention« muss also als solche ausgewiesen sein und mit Zustimmung des potenziellen Coachee geschehen.
Ähnlich verhält es sich mit den helfen wollenden Interventionen, die, wenn sie ungefragt und nicht ausgewiesen unternommen werden, ein Oben-Unten-Ungleichgewicht in der Beziehung zur Folge haben. Das führt mitunter zu einem »Nein« zum Coach, weil der als zu nah gekommen wahrgenommen wurde und hinterlässt beim Coachee unter Umständen ein Gefühl von Verpflichtung. Coaches sprechen dann rückblickend manchmal von der Undankbarkeit dieser Personen, ein Ausdruck der deutlich macht, wie verwickelt eine Beziehung schon nach kurzer Zeit sein kann.
Auftrags- und Zielvereinbarung
Die Verbindlichkeit und damit auch die Energie steigen, wenn der Auftrag und das Ziel für den Coachingprozess definiert und vereinbart werden. Im Falle eines Dreiecks-Kontrakts sind an diesem Schritt Coach, Coachee und Organisationsvertreter beteiligt, für gewöhnlich die direkte Führungskraft und die Personalentwicklung. Mit Blick auf das Arbeitsbündnis von Coach und Coachee ist es in diesem Kontext wichtig, Transparenz über die Positionen und Erwartungen sowie die Verantwortung der einzelnen Beteiligten herzustellen, um Phantasien über Allianzen oder verdeckte Aufträge zu vermeiden.
Gleichzeitig verleiht ein klarer Auftrag und ein deutliches Anliegen dem Coaching erst Prägnanz und Zugkraft. Hier entsteht die »Figur« des Coachings und
»Wenn eine Figur trübe, unklar, reizlos und energielos ist (…) können wir sicher sein, dass Kontaktmangel herrscht, irgendetwas in der Umwelt wird ausgeklammert, irgendein vitales Interesse wird nicht ausgedrückt; die Person ist nicht ›ganz da‹, das heißt, ihr gesamtes Feld kann keine Dringlichkeit und keine Ressourcen zur Vollendung der Figur beisteuern.«52
Führungskräfte, denen man sonst keine attraktive Weiterbildungsmaßnahme mehr anbieten konnte, oder denen das Coaching verordnet wurde, können dementsprechend oft wenig mit diesem Angebot anfangen. Coaching als Incentive- oder Korrekturmaßnahme mag für die Personalentwicklungsabteilung eine klare Figur sein, der Coach erlebt die in diesem Fall Zu-Coachenden häufig als nicht »ganz da«.
Arbeitsbündnis/Kontrakt
Am Beginn der ›eigentlichen‹ Zusammenarbeit steht, wie in jeder Beratungsbeziehung, die Bekräftigung und Spezifizierung des prinzipiellen »Ja« nach dem Kennenlernen. Konkret geht es darum, die Spielregeln und den Rahmen für die folgenden Sitzungen zu klären und zu vereinbaren, wobei der Coach an dieser Stelle in seiner Rolle als Experte und Prozessverantwortlicher auftritt. Dies klärt die Verantwortlichkeiten innerhalb der Dyade und damit auch das Vorgehen, falls es in der Zusammenarbeit schwierig werden sollte, und gibt so dem Coachee die nötige Orientierung und Sicherheit, sich auf den folgenden Prozess einzulassen.
Arbeiten am Thema
»Kontakt«