Das Konzept »Gestalt« so verstanden, kann auch veranschaulichen, wie Lernen und menschliches Wachstum geschehen. Demnach heißt Wachsen durch Integration von Erfahrungen (Schließen von Gestalten) offen zu sein für das, was jetzt und als nächstes im Umweltfeld prägnant ist, damit in Kontakt zu gehen und so eine weitere Erfahrung zu machen.
Kontakt und Kontaktzyklus
»Kontakt« umfasst im Rahmen des Gestalt-Ansatzes den Prozess und die Phasen der Gestaltbildung: die Unterscheidung von Organismus und Umweltfeld durch die Grenze Ich/Nicht-Ich, auch Kontaktgrenze genannt. Den Austausch zwischen Organismus und Umwelt an dieser Grenze und die Bildung einer Gestalt durch die Figur-Hintergrund-Auflösung.
Der Kontaktzyklus, oder auch ›Zyklus des Erlebens‹39 beschreibt den Fluss der Wahrnehmung und des Gewahrseins. Ein Reiz wird empfunden, wird dann bewusst wahrgenommen und erkannt/benannt, das Energieniveau steigt und fokussiert auf eine Figur. Der Organismus setzt sich mit der Umwelt auseinander, auf die Entscheidung, wie auf den Reiz reagiert wird, folgt eine Handlung, die den Wahrnehmenden in vollen Kontakt mit dem Wahrgenommenen bringt. Die Kontaktgrenze wird durchlässig, was sowohl den Organismus als auch das Umweltfeld verändert. Anschließend sinkt das Erregungsniveau, der Organismus verarbeitet und gibt dem Geschehen eine Bedeutung, worauf die Aufmerksamkeit von der Figur abgezogen wird und sich damit der Unterschied zwischen Figur und Hintergrund auflöst, das heißt, die Figur wieder mit dem Hintergrund verschmilzt. Der Rückzug der Aufmerksamkeit lässt den Organismus bereit werden für den nächsten Zyklus. Die letzte oder auch erste Phase, die in den meisten Modellen nicht explizit dargestellt wird, ist die Phase zwischen Rückzug und erneuter Erregung durch eine auftauchende Figur. In dieser Phase der ›schöpferischen Indifferenz‹, die meist eher als Punkt bezeichnet wird,
»ist zwar nichts (no thing, nothing-ness), weil noch nichts differenziert ist, aber gleichzeitig auch alles, weil alles noch nicht Differenzierte differenziert werden kann, auf unendlich verschiedene Weise.«40
Perls und Goodmann haben den Kontaktzyklus in vier Phasen unterteilt, das Modell der Cleveland School besteht aus sieben. Zum besseren Verständnis habe ich in einer Grafik (s. Abb. 1) beide Modelle verbunden.
Abb. 1: Der Kontaktzyklus der Gestalttherapie
Wie die anderen Konzepte beschreibt der Zyklus von Kontakt und Rückzug ein komplexes und vielschichtiges Geschehen und nutzt dazu ein vereinfachendes Modell, das nicht mit der erlebten Wirklichkeit verwechselt werden sollte, die
»viel komplexer und unübersichtlicher ist, als ein in vier oder sieben Phasen untergliederter Kontaktzyklus, da sich meist mehrere Kontaktzyklen unterschiedlicher Qualität und Dauer überlagern und aneinanderreihen.«41
Gleichwohl kann das Modell des Kontaktzyklus dabei unterstützen, Erfahrungsprozesse allgemein zu beschreiben und zu reflektieren und das Bewusstsein dafür zu schärfen, wo und wie diese Erfahrungsprozesse gegebenenfalls unterbrochen oder angehalten werden.
Awareness/Achtsamkeit
Voraussetzung und Ausdruck sowohl für das Offensein der Umwelt gegenüber als auch für den Kontaktprozess ist eine Haltung der mehr oder eher weniger gerichteten Aufmerksamkeit auf das, was jetzt ist. Der vietnamesische Mönch Thich Nath Hanh beschreibt Achtsamkeit am Beispiel des Geschirr-Abwaschens:
»Die Tatsache, dass ich hier stehe und diese Schalen abwasche, ist die wunderbare Wirklichkeit. Ich bin ganz ich selbst, folge meinem Atem und bin mir meiner Präsenz, meiner Gedanken und Handlungen völlig bewusst.«42
Im Buddhismus ist Achtsamkeit eine (meditative) Übung. In der Gestalttherapie wird ›awareness‹ sowohl als Ausdruck als auch Quelle der Lebendigkeit verstanden, ein Sich-Einlassen auf den Moment und seine Anforderungen mit dem Gefühl des Verbundenseins und der Freiheit. Dabei schließt dieses Gewahrsein43 sowohl körperliche, geistige als auch emotionale Phänomene ein, deren Auftreten nicht beobachtet, sondern unmittelbar gespürt, erlebt oder gefühlt werden. Achtsamkeit richtet sich nicht nur nach innen, sondern auch nach außen und auf das Dazwischen, sozusagen das »Ich in der Welt« und seinen Dialog mit ihr, wie es auch, weniger poetisch, im Konzept vom Organismus-Umweltfeld beschrieben wird.
Einen weiteren Aspekt des gestalttherapeutischen Verständnisses von Achtsamkeit beschreibt Gary Yontef folgendermaßen:
»Awareness is accompanied by owning, that is, the process of knowing one’s control over, choice of, and responsibility for one’s own behavior and feelings. Without this, the person may be vigilant to experience and life space, but not to what power he or she has and does not have. (…) The person who is aware knows what he does, how he does it, that he has alternatives and that he chooses to be as he is.«44
Die Bewusstheit der gegenwärtigen Situation beinhaltet also auch die Verantwortung für den Umgang mit ihr. Allerdings heißt Verantwortung hier nicht die Zuschreibung einer Pflicht oder Schuld, sondern meint vielmehr die Möglichkeit zu antworten (response-ability) im Sinne einer Ermächtigung. Wir werden später noch sehen, welche Implikationen das für den Coaching-Prozess haben kann.
Am Beginn dieses theoretischen Exkurses stand ein Zitat von Fritz Perls. Zum Abschluss soll hier Laura Perls zu Wort kommen:
»Das Ziel der Gestalttherapie ist das Kontinuum der Bewusstheit, die sich frei entwickelnde Gestaltbildung, in welcher das, was für den Organismus, die Beziehung, die Gruppe oder die Gesellschaft am wichtigsten und interessantesten ist, zur Figur wird, in den Vordergrund rückt, wo es vollständig erlebt und bewältigt (anerkannt, durchgearbeitet, eingeordnet, verändert, abgelegt) werden kann, so dass es dann im Hintergrund verschmilzt (vergessen oder assimiliert und integriert wird) und den Vordergrund für die nächste, bedeutsame Figur freilegt.«45
Der Kontaktzyklus als Struktur für den Coaching-Prozess
Edwin Nevis und die ›Cleveland School‹ des Gestalt Institute of Cleveland haben in ihrer Arbeit mit Organisationen auf die Nützlichkeit des »cycle of experience« als Orientierungsprinzip hingewiesen.46 Dieses Prinzip kann meines Erachtens auch auf Coaching angewandt werden. Ich verwende im Folgenden die Bezeichnung »Kontaktzyklus«, die sich im deutschen Sprachgebrauch etabliert hat, auch wenn damit in den meisten Fällen das siebenphasige Modell gemeint ist, das korrekterweise als Zyklus des Erlebens bezeichnet werden müsste.
Coaching ist eine Form der Prozessberatung. Der Begriff »Prozess« kommt aus dem Lateinischen: procedere heißt »vorwärts schreiten.« Im Falle von Coaching hat dieses Vorwärtsschreiten einen definierten Beginn und für gewöhnlich auch ein definiertes Ende, wobei sich das Ende zumeist darauf bezieht, wann eine vorher vereinbarte Anzahl von Sitzungen absolviert und/oder wann ein bestimmtes Lernziel erreicht ist. Grundsätzlich gilt für Coaching wie für alle Beratungen, dass der Prozess ergebnisoffen ist, auch wenn durch eine Zielvereinbarung zu Beginn diese Offenheit eingeschränkt wird und dem Coaching dadurch ein Fokus gegeben wird.
Jeder Coaching-Prozess besteht aus verschiedenen Phasen, deren Beachtung das gemeinsame Arbeiten von Coach und Coachee erleichtern, wenn man Coaching auch als einen Lernprozess versteht, der vom Coach gewissermaßen choreographiert wird. Eingängig und bildlich leicht nachvollziehbar kann ich dies anhand des Kontaktzyklus tun. Darüber hinaus lässt sich die Beschreibung der einzelnen Phasen sowohl auf den Coaching-Prozess als Ganzen anwenden als auch auf die einzelnen Sitzungen mit Coach und Coachee. Martina Gremmler-Fuhr geht in ihrem Beitrag über die »Grundkonzepte und Modelle der Gestalttherapie« ausführlich