2.3. Der systemische Blick auf Organisationen
Neben der mechanistischen und der machtorientierten Betrachtung gewann beim Nachdenken über Organisationen die systemtheoretische Sicht Relevanz. Aus dem sehr reichhaltigen, differenzierten Gedankengebäude der Systemtheorie werden im Folgenden drei Aspekte skizziert: Der Blick auf Organisationen, der Prozess der Autopoiese und das Verhältnis von Person und Organisation.
Was versteht die Systemtheorie unter einer Organisation?
Einige Annahmen dazu:
• Organisationen sind das Ergebnis von Beobachtern und deren Beobachtung. Je nach Perspektive und Verständnis werden andere Ergebnisse entstehen.
• Organisationen sind lebende Systeme, die sich verändern und auf Einflüsse von außen reagieren müssen.
• Organisationen sind rückbezügliche Systeme, sie nützen die gelernten Routinen auch für zukünftige Herausforderungen.
• Organisationen sind eingebettet in eine Reihe von wichtigen Umwelten: Politik, Kunden, Wettbewerber, Eigentümer, Mitarbeiter.
• Organisationen sind rund um ihre Aufgabe organisierte Entscheidungen und deren Kommunikation. Die Herausforderung für Organisationen ist im Kern, die umgebende und innewohnende Komplexität zu reduzieren und Handlungsfähigkeit zu generieren und dabei nicht der Neigung des Abkoppelns oder Ausblendens zu erliegen.
»Organisationen im systemtheoretischen Verständnis repräsentieren einen besonderen Typus sozialer Systeme, der darauf spezialisiert ist, Lösungen für gesellschaftliche Problemstellungen zu produzieren, deren erfolgreiche Bearbeitung ein organisiertes Zusammenwirken unterschiedlicher Expertisen erfordert. Organisationen tasten gleichsam ihre relevanten Umwelten nach ungelösten Fragestellungen ab, die sich dafür eignen, die Organisation als solche zu reproduzieren.« (Wimmer 2009, 23)
Organisationen streben danach, einmal erfolgreich gegründet, dauerhaft zu überleben durch die Aufrechterhaltung ihrer inneren Prozesse und der Auseinandersetzung mit der Umwelt. Sie gestalten ihre Zwecke und Ziele selbstständig weiter über die lose Kopplung an die Umwelt.
Autopoiese: Organisationen sind ein sich selbst reproduzierendes System
Das Verhalten der Organisation wird kausal von ihren inneren Strukturen und dem direkten Bezug auf diese inneren Prozesse gesteuert. Der Impuls von außen stellt eine Irritation (anregend oder störend) dar, auf den sie im weiteren Fortgang gemäß ihrer internen Strukturen reagiert. Wie genau diese Handlung aussehen wird, ist nicht vorhersagbar. In diesem Sinne agiert die Organisation autopoietisch, das heißt, ihre inneren Prozesse beziehen sich nur auf sie selber (selbstreferentiell) und sie reproduziert ihre inneren Strukturen und Prozesse aufs Neue.
Nach Luhmann sind Organisationen soziale Systeme, deren Basiselement die Kommunikation ist, in der zwei oder mehrere Akteure mit einander gekoppelt sind. Der Sinn besteht darin, Akteure und ihre Handlungen zu koordinieren mit Hilfe der wechselseitigen Interpretation des beobachteten Verhaltens (z. B. wer erhält Coaching in der Organisation?).
Was zeichnet nun eine Organisation aus?
»Letztlich ist es die Kommunikation von Entscheidungen. Entscheidungen sind Ereignisse, durch die eine unsichere Situation soweit in Sicherheit umgewandelt wird, dass weitere Entscheidungen daran anknüpfen können. Organisationen befinden sich mithin in einem Dauerzustand der Unsicherheit über sich selbst und ihr Verhältnis zu ihrer Umwelt und nutzen diesen Zustand der Unruhe für ihre Selbstorganisation des Anknüpfens von Entscheidungen an Entscheidungen, die jeweils nur für eine ganz bestimmte Situation Unsicherheit absorbieren, um auf dieser Basis weitere Schritte der Unsicherheitsbewältigung aufsetzen zu lassen.« (Wimmer 2009, 24)
Aktuelle Geschehnisse/Ereignisse bewertet die Organisation retrospektiv als zielkongruent, nachträglich erhält das Ereignis einen Sinn verliehen, das geschieht weniger im Sinne einer Zielorientierung, ausgerichtet auf mögliche Zukünfte.
Das Verhältnis von Person und Organisation
Trotz der rückblickenden Zielinterpretation und der komplexen, widersprüchlichen Zielelandschaft, gelingt es Organisationen letztlich, die Handlungen aller Mitglieder fokussiert auszurichten. Der Mitarbeiter verzichtet dafür auf Teile seiner Autonomie, die Organisation hingegen auf eine vollständige Integration aller Elemente des Einzelnen.
Die zugrunde liegende Logik heißt: »Autonomie gegen Sicherheit«, für den einzelnen Mitarbeiter bedeutet dies, dass er Teile seiner Handlungsautonomie zugunsten übergeordneter, arbeitsteiliger Prozessmuster abgeben muss (Simon 2007a: 101 ff.).
Die resultierende Grundannahme der systemischen Organisationstheorie ist die Entscheidung, die Mitglieder einer Organisation zu deren Umwelt zu zählen. Das psychische System des einzelnen Mitarbeiters bleibt für das soziale System Organisation undurchschaubar, ist weder relevant noch nutzbar für die eigene Organisationslogik. Die selektive Nutzung einzelner Kompetenzen gehört zur Funktionsweise von Organisationen unter der Prämisse, das, was auch noch da ist, zu vernachlässigen. In das Zentrum rückt die Organisation nicht etwa Personen, sondern Funktionen, dies sichert die Austauschbarkeit ihrer Mitglieder und die Stabilität ihrer Prozesse, sprich Kommunikation ist unabhängig von Personen, obwohl sie natürlich die Träger der Kommunikation sind.
Konsequenz für Führung
Führung sorgt dafür, dass die Organisation mit ihren Umwelten in einem beständigen Austausch und einer gesicherten Verbindung stehen. Das gilt für Kunden, Märkte ebenso wie für die Verbindung zwischen Mitarbeiter und Organisation. Führung geschieht damit an einer heiklen Schnittstelle von widersprüchlichen und paradoxen Erwartungen, die einen permanenten Ausgleich erfordert. Dieser Ort erfordert auch die permanente Versorgung des Systems mit Soll-Ist Differenzen, das Ausbleiben von irritierenden Herausforderungen ermöglicht der Organisation, sich auf sich selber zu konzentrieren.
Führung sorgt weiterhin dafür, dass die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Organisation durch Entscheidungen reduziert wird und dadurch Folgehandlungen möglich werden. Entscheidungen werden immer im Zeichen von Ungewissheit getroffen, sind somit risikobehaftet, und der weitere Prozess ist unklar und schwer absehbar.
In Anlehnung an Rudolf Wimmer (Wimmer, 2009, 31 f.) ergeben sich die folgenden Aufgabenfelder:
• Das Aufgabenfeld »Zukunft«
Dieses Aufgabenfeld antwortet auf die Neigung der Organisation, sich in der Profilierung der eigenen Aktivitäten primär aus den Problemen der Vergangenheit zu versorgen. Führung »stört« die Vergangenheitsorientierung durch eine periodische Erneuerung des eigenen Existenzgrundes. Dies bedeutet, die Organisation konsequent von ihrer wünschenswerten Zukunft her führbar zu machen und sie bis zu einem gewissen Grad aus ihrer »Pfadabhängigkeit« zu befreien.
• Das Aufgabenfeld »Ausrichtung auf die relevanten Umwelten«:
Führung »stört« diese Neigung zur Binnenorientierung und zur eigenen Auslastung mit selbstbezüglichen Themen durch die Wiedereinführung des externen Blickwinkels auf relevante Umfeldentwicklungen und die damit verbundenen Herausforderungen des Marktes und anderer Umweltdimensionen.
• Das Aufgabenfeld »Umgang mit knappen Ressourcen«:
Im Blickfeld dieses Aufgabenfeldes steht die Auseinandersetzung mit dem Ressourceneinsatz. Organisationen neigen dazu, einen ständigen Mehrbedarf der für die anstehenden Aufgaben einzusetzenden Mittel zu generieren; sie besitzen eine eingebaute Tendenz zur »Verschwendung«. Führung »stört« durch