Mit einem Referendum wurde am 25. Januar 2009 die neue Staatsverfassung, welche die demokratisch gewählte verfassungsgebende Versammlung (Asamblea Constituyente) während neun Monate inmitten großer Spannungen und Krawallen ausgearbeitet hatte, mit 61 Prozent der Stimmen angenommen. Außerdem wurde bei dieser Gelegenheit der maximal erlaubte Grundbesitz pro Person auf 5.000 Hektaren festgelegt. Dieses Gesetz hat jedoch keine rückwirkende Kraft. In der neuen Staatsverfassung sind neben dem Castellano (lateinamerikanisches Spanisch) 36 verschiedene einheimische Sprachen in dem Mehrvölkerstaat (Estado Plurinacional) offiziell anerkannt. Neuerdings gibt es eine autonome Verwaltung auf vier verschiedenen Ebenen: der Departemente, Regionen, Gemeinden und ursprünglichen Gemeinschaften der Indígena. Alle natürlichen Rohstoffvorkommen gehen in die Hände des Staates über; die Erdöl- und Erdgasvorräte sowie deren Gewinne werden vom Staat verwaltet. Die römisch katholische Kirche hat ihren privilegierten Status verloren, da bewusst die Trennung von Staat und Kirche eingeführt wurde (Säkularstaat). Aufgrund dieser neuen Staatsverfassung spricht Evo Morales von einer Refundación del País (Neugründung des Landes). Eine heftige Reaktion der Opposition seitens der Großgrundbesitzer aus Santa Cruz im Osten des Landes, der Unternehmer und anderer konservativer Kräfte, die um ihre Privilegien bangen, konnte wohl nicht ausbleiben. Da sie auch im Besitz der meisten Radio- und Fernsehsender und zudem fast aller Zeitungsverlage sind, ist die öffentlich zugängliche Information stark gefärbt und regierungskritisch. Gemäß der neuen Staatsverfassung hat es in Dezember 2009 (vorgezogene) Präsidentschaftswahlen gegeben, welche die Opposition aus Mangel eines fähigen Kandidaten auf später verschieben wollte. Wiederum hat Evo Morales Ayma mit einem bedeutendem Mehr an Stimmen gewonnen, sodass er als Präsident und der Soziologe und Mathematiker Álvaro García Linera als Vizepräsident nach wie vor mit ihrer Partei MAS (Movimiento al Socialismo) die heutige Regierung bilden und die Geschicke des Landes lenken.
Zurzeit, d. h. Ende 2013, sitzen Staatspräsident Evo Morales Ayma und sein Vize Álvaro García Linera fest im Sattel; sie bereiten sich sogar bereits auf die Neuwahlen im nächsten Jahr vor. Die Frage um Legitimität oder Verfassungswidrigkeit ihrer Kandidatur für eine weitere fünfjährige Amtsperiode hängt von einer – zwiespältigen – Interpretation der neuen Staatsverfassung ab und spaltet im Moment das Volk. Im Laufe der Zeit hat die Regierung es fertig gebracht, den Spieß umzudrehen und jede Kritik in den Medien zu unterdrücken, ganz nach dem Motto: »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns«. Die Widersprüche zwischen Theorie und Praxis, zwischen offiziellem Diskurs und konkreten Entscheiden treten immer klarer hervor. Dabei geht es vor allem um die Frage, wo man ansetzen soll, um die Entwicklung eines armen, abhängigen Landes mit vielen Rohstoffen aber ohne Eigenkapital anzukurbeln. So verspricht sich die Regierung sehr viel von dem durch Brasilien finanzierten Bau einer Straße mitten durch den Nationalpark Isiboro Securé (TIPNIS). Sie will das bisher kaum zugängliche Gebiet dem wirtschaftlichen Wachstum erschließen, in Tat und Wahrheit aber dem Anbau von Koka-Plantagen Tür und Tor öffnen. Nationale und internationale Umweltgruppierungen wehren sich heftig und versuchen, die dort vorkommende, vielfältige Pflanzen- und Tierwelt zu schützen. Die ansässige indigene Bevölkerung wird manipuliert und ist schlecht informiert, während die Entscheidungen weit weg in La Paz gefällt werden. Ein anderer Widerspruch betrifft den Diskurs über die Pachamama (Mutter Erde) einerseits und die Erdölbohrungen im Urwald des Madidi-Nationalparks andererseits. Schließlich gibt es noch ein weiteres Phänomen, das zu Beunruhigung Anlass gibt. Die zahlreichen neuen, bis zu 40-stöckigen Bauten in La Paz weisen auf Geldwäsche von Narcodolares (Geld aus dem Drogengeschäft) hin, obwohl niemand genau Bescheid weiß. Anscheinend floriert das Drogengeschäft, das wiederum die allgemeine Kriminalität fördert. Die meisten Menschen haben einmal mehr das Vertrauen verloren, die Regierung könne ihnen eine bessere Zukunft verschaffen, aber die Hoffnung auf ein besseres Leben bleibt lebendig.
1.3 Das Umfeld Boliviens
Nicht nur die Geschichte, sondern auch die Umweltbedingungen üben einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Menschen aus. In Bolivien lässt sich eine Parallele zwischen der Landschaft einerseits und dem Klima andererseits ziehen, denn beide Elemente weisen extreme Unterschiede auf. Die Landschaft Boliviens besteht aus über 6.000 Meter hohen Bergen, abgrundtiefen Schluchten, einer äußerst kargen Hochebene, trockener Wüste und enormen Salzseen, grünen Tälern, breiten Flüssen und tropischen Wäldern. Es fehlt dem Land nur das Meer, aber die bemerkenswerte Artenvielfalt an Pflanzen und Tieren ist geblieben. Es gibt von April bis September eine trockene, kalte oder sogar eiskalte Jahreszeit und von Oktober bis März eine wärmere oder sehr heiße Regenzeit. Die großen Temperaturschwankungen – Unterschiede von bis zu 20 Grad Celsius innerhalb eines Tages – verursachen viele Krankheiten der Atemwege. Die vier Jahreszeiten, auf die man sich in Europa gut vorbereiten kann, durchlebt man hier ohne Zentralheizung an einem einzigen Tag. Jedes Jahr aufs Neue gibt es in bestimmten Landesteilen zu viel Regen, während es in anderen Teilen zu wenig regnet. Sowohl die regelmäßigen Dürreperioden als auch die Überschwemmungen sind fatal, sie fordern jährlich mehrere Menschenleben.10 Wird die Ernte dieser Regionen vernichtet, sterben außerdem Tausende von Kühen, Schafen oder Lamas, und die Preise der Nahrungsmittel schnellen prompt in die Höhe.
Im Grunde genommen hat Bolivien vor allem Eco-Touristen sehr viel zu bieten; dennoch läuft die Touristenindustrie wegen der schlecht ausgebauten Infrastruktur und der allgemeinen sozialen Unsicherheit nicht an. Obwohl dem Land die enormen Gold-, Silber- und Zinnvorräte geraubt worden sind, verfügt es noch immer über reiche Bodenschätze. Erst neulich ist das Interesse am Abbau von Eisenerz und Lithium erwacht. Das Land hat jedoch nicht die nötigen finanziellen Mittel, um zu investieren und diese Bodenschätze selbst zu verarbeiten. Es exportiert seine Rohstoffe für einen niedrigen Preis und muss die industrialisierten Produkte gegen einen hohen Preis importieren, sodass die Bilanz schlussendlich einen negativen Saldo aufweist. Folglich fehlt es der Staatskasse an Geld, um das mangelhafte Gesundheits- und Erziehungswesen zu verbessern, das bestehende Straßennetz auszubauen, die miserablen Gehälter11 zu erhöhen und eine einigermaßen humane Arbeitslosenunterstützung, Alters-12 und Krankenfürsorge einzuführen. Der Umstand, dass die Einkünfte trotz mehrerer Jobs und der Solidarität innerhalb der Großfamilie niedrig sind, die Ausgaben jedoch bei Krankheit oder Bildungsvorhaben unheimlich schnell anwachsen können, erklärt zu einem Teil die Korruption und Vetternwirtschaft sowie die Gefühle ständiger Sorge und Frustration. In diesem Umfeld sind Ferien oder Freizeitaktivitäten ein Luxus, den sich nur wenige Menschen leisten können.
Bolivien ist ein Land, wo einerseits alles kopiert wird – von CDs, DVDs, Markenartikeln, Büchern bis hin zu Abschlussarbeiten –, aber andererseits eine außerordentliche kreative Begabung zum Überleben an den Tag gelegt wird. Es beherbergt zahlreiche Gegensätze und Widersprüche, die kaum miteinander in Einklang zu bringen sind. Dabei scheinen die äußeren Extreme einer inneren Radikalität ausgesprochener Meinungen und angestrebter Ideale zu entsprechen. So führen die bestehenden Feindbilder bzgl. Rasse, sozialer Klasse und regionalen Zugehörigkeit immer wieder zu heftigen Konflikten. Diese heterogene Gesellschaft rollt von der einen Krise in die nächste und bewegt sich ständig am Rand des Abgrundes. Man hat sich daran gewöhnt. Periodisch wird von einem drohenden Bürgerkrieg oder Militärputsch geredet, es hängt eine latente Todesdrohung in der Luft. Dennoch werden die Jahrestage der Heiligen und die Hochzeiten groß gefeiert.
Nach dem CIA World Factbook hatte Bolivien am 31. Dezember 2007 eine Auslandsschuld von 3.800.000.000 US-Dollar. Die Tilgung dieser Auslandsschuld samt deren Zinsen stellt jedes Jahr den größten Ausgabeposten der Staatskasse dar. In einem Zeitungsartikel in El Deber vom 28. Januar 2007 enthüllte Präsident Evo Morales, dass jeder Bolivianer momentan dank des Schuldenerlasses nur noch 250 Dollar schulde. Diese ›Schuld‹ erzeugt ein Ausgeliefert-Sein und eine Abhängigkeit vom Ausland, den Großbanken und