Eine andere historische Merkwürdigkeit ist die Existenz enormer Latifundien, mit anderen Worten Ländereien unbeschränkter Größe im Besitz einer einzigen Person. Der Großgrundbesitz wurde zwar mit der Agrarreform von 1953 offiziell abgeschafft; inoffiziell gibt es jedoch noch immer Besitztümer mit 50.000 bis 100.000 Hektar Land, vorwiegend im östlichen Tiefland Boliviens. Angesichts der etwa 650.000 Familien mit kleinsten Parzellen, die weniger als einen Dollar pro Tag einbringen,8 ist diese Situation innerhalb ein und desselben Landes kaum vorstellbar.
Die demokratische Staatsordnung ist in Bolivien verhältnismäßig jung. Die Zeit der Militärputsche und Diktaturen ist im Gedächtnis der über 30 Jahre alten Bolivianer noch immer in Form bestimmter Einzelheiten und Bilder anwesend. Die jüngere Generation weiß durch Hörensagen davon. Regelmäßig wird auch wieder der Ruf nach einer solch starken Hand laut. Die Generäle Barrientos, Torres, Bánzer, Natush Busch und García Meza kreierten durch systematische Verfolgungen und Verdächtigungen in den Sechziger- und Siebziger-Jahren des 20. Jahrhunderts ein Klima der Angst. Dabei ist zu bedenken, dass der von ihnen ausgelöste Terror nicht nur die politisch Inhaftierten, Gefolterten, Verschwundenen und Ermordeten selbst, sondern auch ihre Familien, Kumpanen und Nachkommen betraf. Während in Europa ausführlich über das Schicksal der Verschwundenen in Chile und Argentinien berichtet wurde, scheinen die Informationen über die Tragik der von der bolivianischen Diktatur Verfolgten irgendwie untergegangen zu sein.
René Barrientos Ortuño, der von 1964 bis 1969 das Land regierte, paktierte mit den Bauern und legte sich mit den Minenarbeitern an. Mithilfe der CIA wurde unter seinem Oberkommando Ernesto Che Guevara ermordet und der Guerilla eine vernichtende Niederlage zugefügt. Die Zahl der Opfer seiner Diktatur war besonders hoch; nach Amnesty International wurden nur allein zwischen 1966 und 1968 etwa 3.000 bis 8.000 Menschen durch die Todesschwadronen ermordet. Übrigens kam Barrientos selbst im Alter von 50 Jahren unter seltsamen Umständen bei einem Helikopterunfall ums Leben.
Hugo Bánzer Suárez, der einer deutschen Familie entstammte, war von 1971 bis 1978 der militärische Diktator Boliviens und von 1997 bis 2002 dessen (demokratisch gewählter) Präsident. Während der Militärdiktatur unterdrückte er jede Form von Opposition und verbot später sogar alle politischen Aktivitäten. Dieser Diktator scheute sich keineswegs, brutale Gewalt einzusetzen, wobei er vor allem gegen die politischen Parteien – sogar seine eigene – und Gewerkschaften vorging. Er bekam die Unterstützung der USA, und in Einklang mit deren Außenpolitik versuchte er, den Koka-Anbau in Bolivien9 auszumerzen, sodass vielen Kokabauern ihre Existenzgrundlage entzogen wurde.
Luis García Meza Tejada war ein weiterer berüchtigter Diktator der Republik Bolivien. 1980 putschte er sich mit Unterstützung des argentinischen Geheimdienstes an die Macht und errichtete ein grausames Schreckensregime. In den 13 Monaten seiner Herrschaft wurde die Bevölkerung massiv unterdrückt und mehrere Tausende von Menschen wurden von der bolivianischen Armee getötet. Das bekannteste Opfer war der prominente Abgeordnete Marcelo Quiroga Santa Cruz, welcher kurze Zeit nach dem Putsch auf nie geklärte Weise verschwand. Quiroga war Chefankläger und Initiator des Prozesses gegen den ehemaligen Diktator Bánzer wegen Verletzung der Menschenrechte und Misswirtschaft. Das Regime García Mezas war tief in den Drogenhandel verstrickt und wurde von den Drogenkartellen mitfinanziert. Zudem war es korrupt, unterschlug die Tagebücher des Che Guevara und andere Wertsachen, und verkaufte sie gegen einen guten Preis. 1981 trat Präsident García Meza unter starkem internationalem Druck – namentlich der Reagan-Administration – zurück. Nach seinem Rücktritt verließ er das Land und floh nach Brasilien, von wo er aber später ausgeliefert wurde. Wegen ernsthafter Verstöße gegen die Menschenrechte wurde er zu einer 30-jährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Diese Strafe sitzt er auch tatsächlich ab (eine löbliche Ausnahme im bolivianischen Kontext), obwohl er zurzeit in einem Krankenhaus liegt.
Die seit 1982 schnell wechselnden demokratischen Regierungen konnten die wirtschaftlichen Probleme – einerseits ein Erbe der Militärdiktaturen und andererseits wegen dringlicher Forderungen der internationalen Banken, die Zinsen der Auslandsschuld zu zahlen – nur mühsam meistern. In den ersten Monaten des Jahres 1985 wurde die höchste Inflationsrate weltweit erreicht, nämlich 27.000 Prozent. Für die Bevölkerung war diese Entwertung ihres (Spar-) Geldes ein Schock, den man sich in Europa wohl kaum vorzustellen vermag und die nur mit dem Crash von 1927 zu vergleichen ist. Zudem wurde mithilfe nordamerikanischer Truppen einmal mehr versucht, den Anbau von Koka und den Handel von Pasta Básica (Grundlage für Kokain) zu unterbinden, was auf großen Widerstand stieß und nur teilweise gelang.
1993 kam der Bergbauunternehmer Sánchez de Lozada an die Macht, während ein Aymara-Führer Vize-Präsident wurde. Im Vergleich zu den anderen schwer verschuldeten Ländern wurden in Bolivien die strengsten wirtschaftlichen Reformmaßnahmen überhaupt durchgeführt. Dieser neoliberale Kurs beinhaltete den Verkauf mehrerer Staatsbetriebe, eine rigorose Reduktion der Staatsausgaben im Erziehungswesen und Sozialbereich sowie die Schließung vieler Minen. Obwohl die Inflation auf 6,5 Prozent zurückgebracht werden konnte, musste die Bevölkerung große soziale Opfer bringen. Folglich wurde 1997 der Ex-Diktator General Bánzer zum Präsidenten gewählt. Während seiner Periode gab es verschiedene Regierungskrisen und einen Riesenskandal, weil die Korruption und Ineffizienz der Regierung an die Öffentlichkeit gelangte. Bánzer verhängte den Belagerungszustand, konnte aber den gewalttätigen Aufstand wegen der extremen Armut der indigenen Bauern nicht verhindern. Im Jahr 2000 machte das Land eine schwere soziale Krise durch; Streiks, Straßensperren und Zusammenstöße der Indígenas (Einheimischen), Gewerkschaften und Kokabauern mit den Streitkräften waren an der Tagesordnung.
2002 gewann »Goni«, wie Gonzalo Sánchez de Lozada genannt wird, in einer zweiten Runde gegen Evo Morales die Wahlen und wurde zum zweiten Mal Präsident Boliviens (nach 1993-1997). Folglich hatte Bolivien wiederum eine Figur als Präsidenten, der wegen seines jahrelangen Aufenthaltes in den USA besser Englisch als Spanisch sprach und das größte Privatunternehmen Boliviens zur Förderung und Kommerzialisierung von Mineralien des Altiplano (Andenhochland) errichtet hatte. Im Februar 2003 beschloss seine Regierung, eine Einkommenssteuer zu erheben, um das enorme Fiskaldefizit abzuarbeiten und den Forderungen des Internationalen Währungsfonds nachzukommen. Diese unbeliebte Maßnahme führte zu einem Generalstreik und einer Meuterei der Polizei, worauf die bewaffneten Streitkräfte in La Paz eingriffen, was zu mehr als 20 Toten führte. Im Oktober desselben Jahres gab es Gerüchte bezüglich eines Plans, bolivianisches Erdgas über chilenische Häfen in die USA, nach Mexiko und Chile zu exportieren. Aus Protest mobilisierten sich verschiedene soziale Bewegungen des Altiplano und El Alto. Die Regierung versuchte diesen Aufstand mithilfe des Militärs gewaltsam zu unterdrücken, dabei kamen 65 Menschen ums Leben und Hunderte wurden verwundet. Darauf gingen auch Sektoren der Mittelschicht von La Paz auf die Straße und forderten den Rücktritt von Goni. Dieser floh mit Milliardenbeträgen aus der Staatskasse in die USA, wo er noch immer als anerkannter »Flüchtling« lebt. Bolivien hat zwar ein Gesuch um seine Auslieferung gestellt, dieses wurde aber in mehreren Instanzen abgelehnt.
Sein Nachfolger war der Vize-Präsident Carlos Mesa, der ein Kabinett mit Politikern bildete, die keiner Partei angehörten, und der dem Volk ein Referendum hinsichtlich des Gasexportes und der Verstaatlichung der Erdgas- und Erdölvorkommen versprach. Er bekam aber nahezu keine politische Unterstützung, und unter dem Druck schwerer sozialer Unruhen trat er nach etwa zwei Jahren zurück. Das Präsidentenamt wurde dann völlig unerwartet dem Vorsitzenden des Höheren Gerichtshofes, Eduardo Rodríguez Veltze, übergeben. Dieser bildete lediglich eine Übergangsregierung unter Einberufung allgemeiner Präsidentschaftswahlen im Dezember 2005.
Seit Januar 2006 ist Evo Morales Ayma der erste Präsident indigener Abstammung eines Landes, dessen Bevölkerung zu 62 Prozent aus Indigenas besteht. Zudem ist er der zweite Präsident der Republik Bolivien, der mit einem absoluten Stimmenmehr von 54 Prozent im ersten Wahlgang gewählt wurde. Er ist auf dem Land aufgewachsen, vier seiner sechs Geschwister sind als Kind gestorben, seine Schulbildung ist sehr rudimentär.