Interessanterweise haben die bolivianischen Schulkinder ein Pflichtfach, das inhaltlich unter anderem aus dem Studium der Französischen Revolution besteht, während die Kinder in Europa in der Schule doch eher selten etwas über die Zeit der Militärdiktatur in Bolivien erfahren. Die heutige Regierung hat sich erst neulich zum Ziel gesetzt, das Erziehungswesen und überhaupt die öffentlichen Einrichtungen zu »entkolonialisieren«, wie sie selbst diesen politischen Schritt bezeichnet. In diesem Sinne war ich erstaunt, als ein Mitglied der Forschungsequipe,3 das ich beauftragt hatte, die Geschichte und aktuelle Lage seines Landes zu resümieren, mir eine trockene Abhandlung aufeinander folgender Epochen überreichte. Aus irgendwelchen Gründen hatte er keine einzige der haarsträubenden geschichtlichen Ungerechtigkeiten erwähnt und keinen einzigen der unpatriotischen Präsidenten beim Namen genannt. Wollte er nach einer nicht existierenden Objektivität vorgehen, sich gegenüber den Herrschenden seiner Heimat loyal zeigen oder sich nicht emotional aufwühlen lassen? Hatte er eine Lücke in seinem Geschichtsverständnis oder ausgerechnet diese Fakten einfach ›vergessen‹?
Ich bin mir durchaus bewusst, dass die folgende Darstellung der Geschichte und aktuellen Lage Boliviens subjektiv ist. Selbstverständlich habe ich mich an die Fakten gehalten, wobei ich nicht auf alle Einzelheiten eingehen konnte, sondern besondere Geschehnisse und Sachverhalte herausgenommen habe. Bei dieser Schilderung des Hintergrundes geht es mir darum, in erster Linie einen kurzen historischen Überblick, in zweiter Linie aber auch die jeweilige kollektive Bedeutung und inhärente Gefühlsladung zu vermitteln.
Die Geschichte Boliviens ist von Jahrhunderten langer blutiger Gewalt gekennzeichnet: von der Eroberung durch die Inkas und der darauf folgenden Conquista durch die Spanier, dem kolonialen System, dem Unabhängigkeits- (1809-1825) und Bürgerkrieg (1899), der Revolution von 1952 mit anschließender Agrarreform und vielen Verstaatlichungen, den verschiedenen Militärdiktaturen zwischen 1964 und 1982 mit ihren Staatsstreichen und Massakern bis hin zur Wiederherstellung der Demokratie, den soziokulturellen Aufständen wegen einer unvorstellbaren Hyperinflation, den erzwungenen Umsiedlungen von Minenarbeitern und den rigorosen Privatisierungen mit großer Arbeitslosigkeit.
Die ursprüngliche Bevölkerung wurde seit 1535, der Ankunft von Diego de Almagro in Nuevo Toledo (dem heutigen Bolivien), mit den traumatischen Ereignissen der Conquista konfrontiert. Im Verlaufe der Zeit wurde sie dann in Indígenas (einheimische Urbevölkerung), Criollos (Spanier, die in der Kolonie geboren sind) und Mestizos (Mischlinge) aufgeteilt. In der Vergangenheit standen die Einheimischen immer wieder den Mischlingen und Weißen gegenüber; die Bauern, Minenarbeiter und Gewerkschafter immer wieder den Soldaten und Polizisten, die auf der Seite der herrschenden Klasse standen. Die Bevölkerung wurde andauernd fremdbestimmt, sie wurde missioniert, unterdrückt und ausgebeutet.
Ein Beispiel früher institutionalisierter Ausbeutung der Bevölkerung war die Mita, was auf Ketschua »Arbeitsschicht, Arbeitszeit, Jahreszeit« bedeutet. Sie wurde zur Inkazeit als System der Tributleistung durch Arbeit eingeführt. Die Mitayuq oder Fronarbeiter bekamen keinen Lohn, sondern wurden vom Inka-Staat lediglich verpflegt. Dieser öffentliche Frondienst wurde allerdings später von den Spaniern in verschärfter Form fortgeführt. Diese zwangen nämlich einen erheblichen Teil der indigenen Bevölkerung aus den Dörfern zur Mita. Obwohl das System formal streng reguliert war, beuteten die Spanier die Arbeitskräfte aufs Schärfste aus, insbesondere in den Bergwerken. Das goldene Zeitalter in Europa war nur durch den Raubbau der europäischen Mächte möglich, und die industrielle Revolution im Abendland wurde vor allem auf diese Weise finanziert.
Die Spanier schickten vor allem zahllose indigene Dorfbewohner nach Potosí, einem aufstrebenden Minendorf auf etwa 4.000 Metern Höhe, und zwar ins Innere des Cerro Rico (»Reicher Berg«), auf Ketschua Sumaq Urqu, mit den größten Silbervorkommen der spanischen Kolonialzeit. Die Stadt Potosí hatte damals (17. Jahrhundert) gleichviel Einwohner wie London und übertraf europäische Städte wie Madrid, Paris oder Berlin. Hunderttausende von Zwangsarbeitern, die vielfach nicht einmal aus dem andinen Hochland stammten und trotz der dünnen Luft zu Höchstleistungen unter riskanten Bedingungen angetrieben wurden, kamen dort ums Leben. Wie hoch die menschlichen Opfer tatsächlich waren, ist wissenschaftlich umstritten. Im Jahre 1719 raffte der Typhus allein in Potosí in zehn Monaten 22.000 Menschen dahin. Nach dem Forscher Dobyns starben in den ersten 130 Jahren nach der Ankunft Kolumbus’ etwa 95 Prozent der gesamten indigenen Bevölkerung Amerikas aufgrund des Genozids, unbekannter Seuchen und Erschöpfung (Dobyns 1983). Obwohl in Bolivien genaue Angaben fehlen, haben die Menschen dieses kollektive traumatische Geschehen in Form eines packenden Bildes in Erinnerung. Man erzählt sich hier nämlich, dass man mit dem gesamten Silber, das während der Kolonialzeit aus dem Cerro Rico zutage gefördert wurde, eine Brücke über den Atlantischen Ozean von Bolivien nach Spanien bzw. eine ebenso lange Brücke aus den Gebeinen der Toten, die in den Minen des Berges umgekommen sind, bauen könnte. Dieses Bild mag sehr dramatisch anmuten, dennoch trifft es annähernd die historischen Tatsachen.
In den Kriegen gegen Chile (1879-1883) und Paraguay (1932-1935) sowie in den Grenzverhandlungen mit Argentinien, Brasilien und Peru war Bolivien immer wieder der Verlierer.4 Innerhalb eines Jahrhunderts hat das Land über die Hälfte seines Grundgebietes – zum Teil reich an Salpeter, Kupfer und Kautschuk – an die umliegenden Staaten abtreten müssen. Zahlenmäßig verlor Bolivien seit seiner Unabhängigkeit im Jahre 1825 1.265.188 Quadratkilometer, sodass das nationale Territorium heute noch 1.098.581 Quadratkilometer beträgt. Der sogenannte Pazifikkrieg (1879) mit Chile ist im Bewusstsein der Menschen noch immer verankert, da den Kindern im Geschichtsunterricht beigebracht wird, Chile als Erzfeind zu betrachten und den verloren gegangenen Meereszugang von Chile zurückzufordern. Hinsichtlich des sogenannten Chacokrieges (1932-1936) erinnern sich viele Bolivianer daran, wie ihre Großväter oder Großonkel von dieser Hölle erzählt haben. Dieser für ganz Amerika größte und blutigste Krieg des 20. Jahrhunderts fand in einer Steppen- und Sumpflandschaft statt. Während der Grabenkämpfe kamen auf bolivianischer Seite etwa 55.000 und auf paraguayischer Seite 40.000 Soldaten durch Kugeln, Malaria oder Wassermangel ums Leben.5 Paraguay verdoppelte sein Staatsgebiet, aber die vermuteten Bodenschätze stellten sich als fiktiv heraus. Die Hoffnung Boliviens, via Río Paraguay einen Zugang zum Atlantik zu ergattern, nachdem es den Zugang zum Pazifik verloren hatte, erfüllte sich so nicht.
Zudem wurde die bolivianische Bevölkerung regelmäßig von der eigenen Regierung – das heißt von Vater Staat – verraten, weil diese den nationalen Interessen zuwider einen Kurs persönlicher Bereicherung und des Ausverkaufs der Bodenschätze fuhr. Bei den Grenzverhandlungen mit den Nachbarländern Argentinien, Brasilien, Chile, Paraguay und Peru zog Bolivien immer den Kürzeren; entweder aus Eigennutz der Verhandelnden, Inkompetenz oder Identifikation mit dem ausländischen Gewinner. Im Standardwerk der Geschichte Boliviens6 werden die Präsidenten Achá, Melgarejo, Morales und Daza, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Land regierten, als »jähzornig, griesgrämig und wenig vorbereitet« (Mesa 2003: 417) beschrieben. In Bezug auf Mariano Malgarejo (1820–1871) wird ein klares Urteil gefällt: »Aber in Wirklichkeit war die Akzeptanz dieser neuen Grenzlinie und die Aufteilung der Reichtümer, welche eine Übergabe der Gewinne aus Mejillones an Chile und an reiche ausländische Geschäftsleute bedeutete, ein unverzeihlicher Fehler der Regierung von Melgarejo.« (Mesa 2003: 431). Im Volksmund wird oft – ohne jeglichen erkennbaren Gefühlsausdruck – erzählt, wie dieser unpatriotische Präsident den enormen Landesteil Acre im Tausch gegen ein weißes Pferd Brasilien geschenkt hat.7
Wenn man sich in die Geschichte Boliviens vertieft, bekommt man leicht ein Gefühl der Unwirklichkeit. Mir persönlich fällt es jedenfalls schwer, die unglaubliche Ungerechtigkeit und Brutalität und die schroffen Gegensätze ernst zu nehmen. Es ist aber noch schwieriger, zu diesen Fakten Stellung zu nehmen, die Wut, Ohnmacht und Fassungslosigkeit auslösen. So gab es z. B. den Präsidenten Gualberto Villarroel López, der während seiner Amtszeit von 1943 bis 1946 einerseits gewisse Sympathien für den Nazi-Faschismus hegte und andererseits weitreichende Reformen durchführte, wie etwa die staatliche Anerkennung