Katharina Karl
SCHEITERN ALS „SIGNATUR DER MODERNE“
Der These, dass Scheitern eine „Signatur der Moderne“ (Jeggle, 221) darstellt, ist insofern zuzustimmen, als ein großes Augenmerk auf der Frage nach dem Glück und dem Gelingen von Lebensentwürfen liegt. Der gesellschaftliche Druck und Anspruch, glücklich zu sein, kann belastend sein und zum Scheitern führen, vor allem angesichts der Tatsache, dass in einer „Risikogesellschaft“ (Beck) die Verantwortung für das eigene Leben mit allen Chancen, aber eben auch Gefahren beim Individuum selbst liegt. Die Gesellschaft bietet Rahmenbedingungen, aber keine Garantien zur Absicherung der Daseinsbewältigung. Die Maßstäbe, an denen Scheitern gemessen wird, werden so zunehmend höher und die „Orte“ der Selbstverwirklichung oder auch des Scheiterns vervielfältigen sich. Jemand mag an einem Ziel scheitern, das er/sie sich persönlich gesetzt hat oder an Erwartungen an Wohlstand und Erfolg, die gesellschaftlich festgelegt und vom Subjekt anerkannt sind. Es sind ausgesprochene und unausgesprochene Ideale des gelungenen Lebens, an denen Menschen sich messen und gemessen werden – und an denen sie scheitern. Eine Karriere kann ebenso scheitern wie eine Beziehung.
Zu unterschieden sind hier für die eigene Identität relevante Teilbereiche des Scheiterns und das absolute Scheitern als Idealtyp nach Max Weber (vgl. Junge, 18). Gelingt es einer Person nicht mehr, handlungsfähig zu bleiben und Möglichkeitsspielräume zu entwickeln, umfasst das Krisenerleben zunehmend die ganze Existenz. Scheitern wird subjektiv empfunden und intersubjektiv verstärkt oder relativiert. Im Scheitern erlebt eine Person, dass identitätsstützende Faktoren wegfallen, dass etwa das eigene Kohärenzgefühl gestört ist und soziale Anerkennung ausbleibt. Beide, Kohärenz und Anerkennung, gehören zusammen und sind Teil der Syntheseleistungen von Identitätsarbeit (vgl. Keupp, 243-263).
Katharina Karl
geb. 1976 in Regensburg, Dr. theol. habil., Professorin für Pastoraltheologie und Religionspädagogik an der PTH der Kapuziner in Münster; Leiterin des dortigen Pastoralseminars für Ordenspriester sowie Leiterin des Jugendpastoralinstituts Don Bosco in Benediktbeuern.
Ein kohärentes Identitätsgefühl hängt neben anderen Faktoren auch davon ab, welche Ressourcen materieller, aber auch psychischer Art dem Individuum zur Verfügung stehen, um andere Identitätsbereiche zu stärken, und welche Begleitung ein soziales Umfeld im Fall des Scheiterns in einem Lebensbereich (Ehe, Arbeit) bereithält. „Die Kompetenz einer aufgeklärten Umgangsweise mit bedrohter und gebrochener Identität gehört zu den Grundausstattungen der Lernprozesse, die auf Zukunft ausgerichtet sind“ (Negt, 34). Umgang mit Scheitern bildet daher einen wesentlichen Teil von Identitätsarbeit und ist, prospektiv gesehen, Bestandteil der Konstruktion der eigenen Zukunft.
Aufhören ist vom Scheitern in mehrfacher Hinsicht abzugrenzen. Aufhören ist ein grundsätzlich wertneutraler, alltäglicher Vollzug. In manchem Kontext, wenn Aufhören mit Aufgeben verknüpft ist, rückt es je nach dem Kontext, in dem es bewertet wird, in die Nähe des Scheiterns. Bevor es zu einer letzten Konsequenz kommt, wird ein aktiver Handlungsimpuls gesetzt. Der bewusste Ausstieg aus einem System, einer Handlungsabfolge, einer Lebensform, einer Tätigkeit o.ä. kann ein Zeichen des Protests sein (etwa der Austritt aus der Kirche) und markiert eine Grenze. Aufhören oder Dabeibleiben ist in Konfliktsituationen eine schwierige Entscheidung. Ob es zum Scheitern führt, ist abhängig vom situativen Kontext und Faktoren.
Das aktuelle gesellschaftliche Narrativ ist ein Narrativ des Erfolgs, das Gescheiterte in der Regel marginalisiert. „Auch und vor allem Gescheiterten wird die Aufgabe zugeteilt, die Geltung der gesellschaftlichen Erzählung von den Möglichkeiten erfolgreichen Handelns zu bestätigen. Das […] erzeugt eine Situation von gesteigertem Sinn- und Transzendenzbedarf“ (Junge, 30). An dieser Stelle öffnet sich der Diskurs auf den Bereich der Spiritualität. Denn die Frage nach Sinn und Transzendenz trifft in den Kernbereich von Spiritualität. Spiritualität ist als Ressource für existentielle Daseinsbewältigung angefragt. Wie dies aussehen kann, dem soll im Folgenden genauer nachgegangen werden.
SCHEITERN (SPIRITUALITÄTS)THEOLOGISCH
„Die Stockwerke des Scheiterns scheinen sehr unterschiedlich. Im Dachgeschoss beschäftigen sich die Theologen mit der Christologie unter dem Aspekt des Scheiterns als Voraussetzung der Erlösung“ (Jeggle, 221). Ein spiritualitätstheologischer Kern im Blick auf das Scheitern findet sich in der Biografie Jesu. Sie hat, so behauptet es zumindest die narrative Exegese, exemplarische Funktion, präsentiert eine Relecture, aus der eine Identifikation mit Aspekten der eigenen Lebensgeschichte erfolgen kann (vgl. Karl 2013, 293). Im Scheitern Jesu wird „menschliche Existenz radikal auf die Gottesfrage hin geöffnet“ (Karl 2013, 293).
Ob man mit Jeggle so weit gehen kann, Scheitern als Voraussetzung für Erlösung zu bezeichnen, sei dahingestellt. Auch scheint es fraglich, den theologischen Blick auf das Scheitern bildlich gesprochen ins Dachgeschoss zu verlegen und ihn nicht ganzheitlich mit anderen Forschungsrichtungen verwoben zu verstehen. In jedem Fall ist das Kreuz als christliches Symbol des Heils ein Zeichen, das die Realität von Scheitern nicht außen vor lässt. Das entlastet. Es entlastet von dem Wahn eigener Perfektion und überhöhtem Erfolgsdruck und sensibilisiert für das Nicht-Machbare, dem sich jede Existenz ausgeliefert sieht.
Die christliche Botschaft scheint eindeutig, und doch stoßen wir auch hier auf Ambivalenzen. Auf der subjektiven Ebene sind persönliche Wertvorstellungen und Ideale involviert, die einen hochsensiblen Bereich betreffen, denn nicht selten geht Spiritualität mit Elite- und Perfektionsstreben einher. Auf der intersubjektiven Ebene übt eine Glaubensgemeinschaft auch die Funktion moralischer Bewertung aus. Innerhalb der christlichen Kirchen besteht dabei nicht selten Uneinigkeit darüber, wie die Botschaft der Barmherzigkeit Gottes und das Moment der menschlichen Verletzlichkeit, das dem Weg Jesu als Verkörperung der Menschenfreundlichkeit Gottes eingezeichnet ist, mit der systemischen Funktion als moralisch-ethischen Instanz vereinbar sind.
KRITIK AN EINER SPIRITUALITÄT DES SCHEITERNS
In diesem Kontext ist auch auf mögliche und existierende Fehlformen hinzuweisen. Geht eine Idealisierung von Scheitern oder eine Stigmatisierung von Gescheiterten so weit, dass sie eine Selbstrücknahme, die zu menschlichem Scheitern führt, im Mantel der Demut als Teil eines geistlichen Weges spirituell zu validieren sucht, fördert und begünstigt dies Strukturen und Haltungen des Missbrauchs.Das Kreuz wird als ein Demutssymbol inszeniert, das Menschen in der Aufgabe ihrer selbst bestätigt und ihr Scheitern normiert. Dieses Phänomen ist subtil in verschiedenen Formen in der religiösen Landschaft präsent. Gerade das Frauenbild ist in verschiedenen Religionen oder religiösen Gruppierungen von einer solchen falschen Demutslogik gekennzeichnet.
In der pastoralen Arbeit mit missbrauchten Frauen ist mir dies begegnet. Eine betroffene Frau etwa fand im Leiden Jesu am Kreuz die Begründung, die Misshandlungen durch ihren Mann auszuhalten. Abgesehen davon, dass materielle Ressourcen fehlten, um aus der Situation auszubrechen, wurde Spiritualität hier zu einer negativen Identitätsstütze und dadurch der Missbrauch indirekt legitimiert. In künstlerischer Form ist dieses Phänomen im Film „Kreuzweg“ von Dietrich Brüggemann dargestellt, der 2014 in die Kinos kam. Er zeichnet den buchstäblichen Kreuzweg eines Mädchens, das an dem eigenen Anspruch der Demut und Selbstverleugnung und dem Druck von außen in höchst tragischer Weise zerbricht (vgl. Kreuzweg).
Auf ein analoges Muster stößt man im Zusammenhang mit Haltungen in der katholischen Kirche in Bezug auf das Scheitern und die Schwäche von Amtsträgern. Die Argumentationsstruktur, menschliches Fehlverhalten etwa im Vergleich mit dem Verrat des Petrus biblisch zu fundieren und damit strukturell zu entschuldigen, ist gerade angesichts der aktuellen Missbrauchsaufarbeitung höchst fraglich und nicht mehr akzeptabel. Denn es überhöht menschliche Schuld und menschliches Scheitern in einer unangemessenen Art und Weise. Es kann und darf also keine „Spiritualität des Scheiterns“ geben, sondern nur eine scheiternssensible Spiritualität und Pastoral (vgl. Sautermeister, 49).