Wenn der Schnitt gesetzt wird, ist noch nicht klar, in welche Richtung es sich entwickelt: Kann der Verlust ausgehalten und betrauert werden? Bleibt er eine klaffende Wunde, die sich erst nach langer Zeit schließen wird? Ist das Beendete unwiderruflich beendet oder kann wieder damit „angefangen“ werden? Wird das neu Entstehende wahrgenommen und erkannt, lässt es sich mutig gestalten?
Wie grausam sich der Schnitt des Aufhörens anfühlen kann, ist in Mt 18,8-9 verdeutlicht: „Wenn dir deine Hand oder dein Fuß Ärgernis gibt, dann hau sie ab und wirf sie weg! Es ist besser für dich, verstümmelt oder lahm in das Leben zu gelangen, als mit zwei Händen und zwei Füßen in das ewige Feuer geworfen zu werden. Und wenn dir dein Auge Ärgernis gibt, dann reiß es aus! Es ist besser für dich, einäugig in das Leben zu kommen, als mit zwei Augen in das Feuer der Hölle geworfen zu werden.“ Der Preis ist hoch, der Gewinn mächtig: Es geht darum, ins Leben zu kommen und das, was daran hindert, dem Feuer preiszugeben, auch wenn es in einer solchen Nähe zu uns steht wie unser eigener Augapfel.
DAS GESCHENK DES LEBENS
Einfach da zu sein, sich dem Leben ohne viel Aufhebens hingeben zu können und darauf zu vertrauen, dass es durch die Tage und Wochen hindurch trägt, ist möglich durch die unhinterfragte Gewissheit, zu existieren. Krisen und Scheitern bringen Ungewissheit, die vertraute Selbstverständlichkeit der Gewissheit gerät ins Wanken. Dieser Lebensungewissheit und der damit verbundenen tiefen Verunsicherung versucht die Seelsorge etwas entgegenzusetzen, das bestärkt und Empowerment bedeutet. Die Pastoralpsychologie verwendet dafür den Begriff „Lebensvergewisserung“ und meint damit „[…] den Prozess, zu lernen, auf das Leben zu vertrauen“ (Weiß, 50).
Scheitern und aufhören zu können heißt, zu akzeptieren, dass eine gestaltende Lebensmacht unsere Fixierungen, Muster und Anhaftungen aufzubrechen im Stande ist. Mit beidem – dem Scheitern wie dem Aufhören – gehen Schmerz und Leid einher und es wird deutlich, dass es etwas zu verabschieden und zu betrauern gibt. Sicherheit und Gewissheit erscheinen statisch, Vergewisserung bedeutet hingegen, dass es notwendig ist, sich auf einen Prozess einzulassen.
Wenn das Leben ins Wanken gerät, erleben sich Menschen nicht nur orientierungslos und ohnmächtig, sondern auch fragend und suchend. In diesen Lebensabschnitten ist es eine Kunst, sich treu zu bleiben, wehrhaft zu sein und vor allem den eigenen Opferstatus-Anteil zu durchschauen. Das erfordert von seelsorglichen und therapeutischen Expert/innen ein hohes Maß an Realitätswahrnehmung, Aufmerksamkeit und Demut.
Seelsorge heißt hier, die Angst, das Entsetzen und das Verstummen auszuhalten, ohne sich selbst davon wegschwemmen zu lassen, oder sich mit vorschnellen Vertröstungen dagegen zu immunisieren. Die von Scheitern und Verlusterfahrungen betroffenen Menschen sind diejenigen, die den Keim von Verwandlung und Transformation in sich tragen. Sie kennen den Faden der zu ihren Widerfahrnissen führt, auch wenn dieser Faden noch so dünn sein mag. Menschen, die in Not geraten sind, tragen Wunden in sich und laufen Gefahr, tiefer in diese Wunden gestoßen zu werden (vgl. Lieben, 99). Das geschieht häufig in der Umgebung, die weder am Scheitern noch an den damit verbundenen Konsequenzen interessiert ist, aber auch durch den eigenen „Ankläger“ oder „Richter“ in uns. Wunden brauchen Zuwendung und einen freundlichen Umgang, damit sie der Verwandlung ausgesetzt werden können. Denn es gibt den paradoxen wie unheilvollen Zusammenhang zwischen Wunden und Verachtung. Verachtung aber macht dumpf und fremd sich selbst und seinem Schmerz gegenüber.
Der Seelsorger/die Seelsorgerin erfährt die Begleitung als Spiegelung in Bezug auf den eigenen Umgang mit der Kontingenz des Lebens. Förderlich sind Klarheit, Genauigkeit und Sorgfalt, die Ordnung schaffen im psychischen Chaos, das Katastrophen im Normalfall hinterlassen. Wenn das Spiegelbild vorschnelle Erklärungsmodelle, Genugtuung oder Mitleid sichtbar werden lässt, ist das ein Anlass, sich auf den Weg zu machen, die eigenen abgespaltenen Anteile aufzusuchen.
Im Scheitern liegt Endgültigkeit, weshalb es noch stärker als in Krisensituationen Normen und Glaubenssätze zerbrechen lässt. Was Menschen in dieser Situation in erster Linie brauchen, ist Achtung und das Wiedergewinnen von Verantwortung durch das Aufgeben der Opferrolle. Das ist eine Zumutung – für die/den vom Scheitern Betroffene/n ebenso wie für das begleitende Gegenüber. Das Schicksal der Betroffenen und sie selbst sind weder zu romantisieren noch zu bagatellisieren. Das, was geschehen ist, was losgelassen oder beendet wurde, hinterlässt Leere und Verwirrung. Schuldzuweisungen und Verurteilungen, das Ausüben einer Deutungsmacht, die sich über das Wissen der Betroffen erhebt, schafft Unheil. Menschen wollen in der Würde ihres Schicksals gesehen, verstanden und angenommen werden.
Die Dunkelheit und das Böse lösen Depression, Ohnmacht, Verzweiflung, Angst und Elend aus. Zugleich stehen diese Realitäten ganz nah an der Sehnsucht der Menschen, sich dem Leben ganz und gar anzuvertrauen und es vertieft und sinnerfüllt zu begreifen. Der Apostel Paulus spricht in seinem Brief an die Gemeinde in Rom von der Gewissheit der Hoffnung in allem Leid und schreibt: „Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes […]“ (Röm 8,38f). Daran zu glauben ist angesichts von Not und Elend, das Menschen aufgrund bestimmter Schicksale aushalten müssen, eine Herausforderung. Jedoch ist anscheinend im Leben selbst – in seiner Natur und schöpferischen Kraft – die Gewissheit zugrunde gelegt, dass es sich ständig selbst verschenkt und erneuert. Das Scheitern will also gehört werden und Gehör finden, weil ihm anscheinend eine bedeutende Botschaft innewohnt.
Die erst kürzlich achtzig Jahre alt gewordene österreichische Autorin, Sängerin und ehemalige Schauspielerin am Burgtheater Wien,Erika Pluhar, formulierte jüngst in einem Interview, dass das Leben ein Geschenk sei, auch wenn es einem nichts schenkt. In Bezug auf den Tod ihrer Tochter erzählt sie: „Ich habe alles gemacht und wahrgenommen wie hinter Glas. Aber das Leben ist stark. Und langsam ist das Glas gesplittert und plötzlich merkt man die Sonne und spürt, die ist eigentlich schön“ (Pluhar-Interview). Sie beschreibt in ihrem Buch „Die öffentliche Frau“ ihren Umgang mit einer in Stücken gebrochenen Welt: „Aber mit der Zeit […] klebt man alles, was gebrochen ist, die Welt, das Herz, die Hoffnung, das Vertrauen wieder irgendwie zusammen und lebt weiter“ (Pluhar, 87). Das geschenkte Leben ermöglicht es, dass das, was gebrochen ist, sich auf bestimmte Weise wieder irgendwie zusammenfügt, dass die Welt sich wieder neu findet im eigenen Herzen.
LITERATUR
Giddens, Anthony, The Consequences of Modernity, Cambridge 2010.
Klessmann, Michael, Seelsorge. Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens, Neukirchen-Vluyn 32010.
Lieben, Christl, Im Antlitz des Bösen. Ich weinte die Tränen der Mörder und fand das Licht, München 2016.
Pluhar, Erika, Die öffentliche Frau. Eine Rückschau, Berlin 2015.
Pluhar-Interview: www.looklive.at/people-ich-lebe-mit-demschmerz.
Rössler, Ingeborg, Krise, Trauma und Konflikt als Ausgangspunkt der Seelsorge, in: Engemann, Wilfried (Hg.), Handbuch der Seelsorge. Grundlagen und Profile, Leipzig 32016, 451-47 5.
Weiß, Helmut, Seelsorge – Supervision – Pastoralpsychologie, Neukirchen-Vluyn 2011.
Scheitern und Aufhören als spirituelle
Herausforderung und Ressource
Das Phänomen „Scheitern“ ist ambivalent. Es umfasst existentielle Brucherfahrungen, wenn etwa durch den Verlust der Arbeit Armut droht, ein entscheidender Plan nicht aufgeht, eine Beziehung zerbricht. Das damit einhergehende Erleben von Ohnmacht, Kontrollverlust und Versagen ist schwer auszuhalten. Scheitern