Im ursprünglichen Wortsinn war es das Schiff, das „scheiterte“, und zwar an den Klippen der Küste. Dort zerbirst und zerschellt es, bricht in tausend Stücke, wird zerstört (vgl. Klessmann, 256). So kann sich scheitern auch existentiell anfühlen, und zwar dann, wenn das Leben nicht von Erfolg gekennzeichnet ist, nicht „geglückt“ zu sein scheint.
Die Psychologie hat – um lebensgeschichtliche Brüche zu beschreiben und zu veranschaulichen – vor allem auf die Begriffe Krise, Trauma oder Konflikt rekurriert und auch deutlich gemacht, wie wir uns dazu verhalten können: mittels Kriseninterventionen, Resilienz, Trauma- und Konfliktbewältigungsstrategien.
Der Begriff des Scheiterns hingegen suggeriert Endgültiges. Scheitern scheint in westlichzivilisierten kapitalistischen Gesellschaften mit ihren neoliberalen Wirtschaftssystemen genau das Gegenteil von „Erfolg“ zu sein. Das Start-up Unternehmen ist gescheitert, weil es pleitegegangen ist; Ehen und Paarbeziehungen scheitern, die Medizin „scheitert“, wenn die Krankheit zum Tod führt; „gescheiterte Existenzen“ sind es, die man unter den Psychiatriepatient/innen in der geschlossenen Abteilung, den Obdachlosen und Pennern zu finden meint. Auch Jesus „scheitert“ am Kreuz. Scheitern gehört insofern konstitutiv in das begriffliche Repertoire christlicher Theologie. Wenn das Gegenteil von Scheitern zur Voraussetzung und Bedingung für das Leben wird, ist es die Theologie, die ihre Stimme erheben muss.
SCHEITERN UND CHANCE
Krisen, Konflikte, traumatische Ereignisse sind ebenso wie das Scheitern gewissermaßen Bestandteil jeder Biografie. Sie gehören zu den Wachstumsprozessen im Lebensverlauf. Das Leben „wider-fährt“ uns mit voller Wucht – auch wenn wir geneigt sind, uns manches Mal gegen dieses Widerfahrnis aufzulehnen und entgegenzustemmen, dagegen aufbegehren wollen. Heftige Ereignisse von außen können Prozesse des Scheiterns in Gang setzen. Scheitern gibt es jedoch auch im Stillstand, in der Erstarrung der Lebendigkeit, im Festgezurrt-Sein durch Muster und unhinterfragte Gewohnheiten. Zum Leben gehört auch all das, was überhaupt Leben ermöglicht: materielle und geistige Nahrung, Sicherheit und Geborgenheit, Zuwendung, Beziehung, Liebe und Glück. Um den Alltag bewältigen zu können, benötigen Menschen eine bestimmte Form von ontologischer Sicherheit („ontological security“), wie dies der Soziologe Anthony Giddens bezeichnet. Im Kontext von Pastoralpsychologie und Seelsorge spricht man in diesem Zusammenhang von „Seinsgewissheit“ (Ziemer, 221), die nötig ist, um angesichts menschlicher Kontingenzerfahrungen Boden unter den Füßen zu behalten.
Maria Elisabeth Aigner
Ao. Univ.-Professorin am Institut für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie an der Karl-Franzens-Universität Graz; Leiterin der Abteilung für Pastoralpsychologie; Lebens- und Sozialberaterin; Bibliodrama- und Bibliologtrainerin international; Vorsitzende des Arbeitskreises für Gleichbehandlungsfragen an der Universität Graz.
Krisenphänomene erschüttern diese Seinsgewissheit in zweifacher Hinsicht. Zum einen sind sie Bestandteil jeder lebensgeschichtlichen Übergangssituation und haben mittlerweile auch im populärpsychologischen Sprachgebrauch Eingang gefunden: Pubertätskrisen, Ehe- oder Beziehungskrisen und der Pensionsschock gehören als Entwicklungskrisen zur Alltagserfahrung. Im verhaltenen oder offensiven Trubel und Chaos andauernder Identitätsfindungsprozesse macht sich aus dem Unterbewussten langsam ins Bewusstsein tretend die Erkenntnis breit, dass Veränderung ansteht. Etwas funktioniert im eigenen System und in Relation zur Umwelt nicht mehr so wie bisher. Die Krise signalisiert, dass es zu einem Wandel kommen wird. Es ist dies die Zeit, wo verfestigte Muster und Strukturen sich verflüssigen und der Stillstand aufgehoben wird.
Die Lebenserfahrung zeigt, dass Krisen- und Konfliktsituationen ein großes Potenzial beinhalten. Zugleich erleben Menschen diese Phasen mitunter äußerst schmerz- und leidvoll und trachten nach möglichst schneller Bewältigung, was einem heilsamen Entwicklungsprozess zumeist entgegensteht.
Zum anderen wird in sogenannten „Aktualkrisen“ (Rössler, 454) erfahren, dass die selbstverständliche und vertraute Routine des Lebens einen gewichtigen Einschnitt erfährt. Wenn die Krise nicht mehr allein ein verunsichernder, angstmachender, mit Schmerz verbundener Teil des Alltags ist, sondern sich wie ein Zusammenbruch anfühlt, der das Leben bis in die tiefsten Ritzen hinein erschüttert und infrage stellt, nimmt die Krisenerfahrung eine anders gelagerte Bedeutung an. Trennung, Tod, Verlust, Missbrauch, Krankheit, Ruin können Menschen so sehr zusetzen, dass es zu Traumatisierung, Störungen und totalem Rückzug kommt, der auch in einer suizidalen Krise enden kann, wenn die notwendigen Bewältigungs- und Copingstrategien nicht im hinreichenden Ausmaß vorhanden sind.
Die seelsorgliche Konnotation mit dem Begriff „scheitern“, sowie die Tatsache, dass das Scheitern größeren Endgültigkeitscharakter zu haben scheint als die Krise, verweisen auf die Schuldthematik und die Thematik der Schuldgefühle. Menschen erfahren sich gerade in Zusammenhang mit der Erfahrung von Scheitern in Schuld verstrickt oder werden von Schuldgefühlen geplagt, der bewussten oder unbewussten Überzeugung also, etwas Falsches getan zu haben, was womöglich gar nicht der Fall ist. Es gibt Anteile von Selbst- und Fremdverschulden im Scheitern und selten lassen sich diese klar benennen – weder von Seiten der Betroffenen noch von außen.
Das Erleiden-, Erdulden-, Ertragen-Müssen erzeugt Ohnmacht. Schuldgefühle stellen eine erahnte Möglichkeit dar, für das Geschehene Verantwortung zu übernehmen und sich dadurch nicht mehr so entsetzlich ohnmächtig zu fühlen. Scheitern hat mit Versagen, Niederlagen, Begrenzungen, Scham, sowie mit dem Gefühl des Ausgeliefert-Seins zu tun – allesamt Tabus in einer leistungsorientierten Gesellschaft.
Vor diesem Hintergrund ist das Einsetzen jeglicher Chancenrhetorik im Zusammenhang mit Krisen und Scheitern mit Vorsicht zu genießen. In den Erschütterungsprozessen der Seinsgewissheit auch ungeahnte Chancen zu wittern, kann fatal und notwendig zugleich sein. Es ist fatal und grenzt an Zynismus, dem Gescheiterten in seinem Elend vorschnell mit der Hoffnung, oder mit Potenzialen und Chancen zu kommen. Die Chancen aufzuzeigen ist dennoch wichtig, weil das Wissen, dass im Prozess des Scheiterns auch die Möglichkeit des Eintauchens in eine neue Kehre des Lebens – der Umkehr – liegt, Mut machen kann, nicht aufzugeben. Dem Schicksal des Scheiterns nicht zu erliegen, sondern in ihm in paradoxer Weise den Keim des Neubeginns zu erahnen, dazu gehören Vertrauen ins Leben und Lebenskunst.
In den Erschütterungsprozessen der Seinsgewissheit auch ungeahnte Chancen zu wittern, kann fatal und notwendig zugleich sein.
HÖR AUF (MICH)!
Kinder wissen noch am besten, wie mit Scheitern umgegangen werden kann, denn sie erproben sich spielerisch im Experiment, das das Scheitern mit einschließt. Immer wieder scheitert das Gehen im Probieren der ersten Schritte des Kleinkindes, weil es hinfällt. Und erneut steht es unermüdlich auf, bis die Füße von selber in der aufrechten Fortbewegung tragen. Der kindliche Entdeckungs- und Erkundungssinn und das Wiederholen kennen mitunter keine Grenzen – auch wenn Gefahr droht. „Hör auf!“ ist dann das Signal aus dem Mund der Erwachsenen, um zu verdeutlichen, dass es nun genug ist. „Hör damit auf!“, lautet der Appel, der zugleich suggeriert: „Hör auf mich, ich sage dir, was gut für dich ist!“. Aufhören geschieht, weil wir auf etwas hören – auf die Stimme der Mutter oder auf unsere eigene innere Stimme, die so wie andere Menschen, auf die wir hören, zu uns gehört.
Aufhören hat ähnlich wie das Scheitern etwas mit Grenzerfahrung zu tun. Das Aufhören markiert selbst die Grenze. Das, was war, ist nicht mehr – es wurde beendet. Es gibt einen Bruch, ein Zerschellen der Kontinuität an der Entscheidung, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Die Distanz zum Vorhergehenden kann als schmerzlicher Verlust oder aber auch als befreiende Erleichterung wahrgenommen werden. Die Distanz zu dem, was kommen wird, birgt einen hohen Grad an Verunsicherung in sich. Aufhören, beenden, beschließen heißt in einem ersten Schritt, die Leere auszuhalten, es sei denn, diese Leerstelle wird nicht sofort mit neuer Aktivität aufgefüllt. Es gibt das Aufhören als aktiven Beschluss, aber auch als resigniertes klein Beigeben. Mit etwas bewusst aufzuhören und Schluss zu machen, bedroht, besticht, verunsichert und verletzt, oder es schafft Raum, ermöglicht, erfreut, bereichert.
In diesem