Die Quellenlage des AKH-Privatarchivs erlaubt es zudem, eine Einordnung anhand von Briefen von Erfurter Professoren vorzunehmen. Die Bewertung und Kommentierung des Hallenser Aktionskreises durch Teile der Professorenschaft des Philosophisch-Theologischen Studiums in Erfurt ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil Erfurt die einzige kirchlich-akademische Ausbildungsstätte für den Klerus in der DDR war. Die kirchliche Hochschule genoss hohes Ansehen und ihren Professoren kam eine bedeutende Stellung als theologische Berater und Vermittler in der DDR zu. Die hier lehrenden Professoren waren trotz der innerdeutschen Teilung und Isolation international vernetzt und genossen nicht zuletzt als Konzilstheologen und -teilnehmer weltweites Renommee.
Professor Dr. Bruno Löwenberg737 stammte aus Halle und war seit 1953 Ordinarius für Pastoraltheologie in Erfurt.738 Er war Paderborner Priester und hatte vor seiner Berufung nach Erfurt die Stelle des Subregens im Paderborner Priesterseminar wahrgenommen.739 Prof. Löwenberg war Teilnehmer der ersten Sessio des II. Vatikanischen Konzils.740 Als Angehöriger des Magdeburger Presbyteriums stand er in Kontakt zu den Initiatoren des AKH. Professor Löwenberg bedankte sich regelmäßig für die Informationssendungen und Einladungen des Aktionskreises, nahm aber nie an einer Vollversammlung teil.741 Den Themen der Rundbriefe attestierte er einen für den ostdeutschen Raum hilfreichen kritischen Tenor: „Danken möchte ich Ihnen besonders für Ihren Rundbrief vom 5.3. Es freut mich, dass die Themen der (sic!) ‚Lücken‘ anfassen. So werden sie nicht vom Tisch gewischt.“742
Der Erfurter Lehrstuhl für Exegese des Neuen Testamentes war mit dem international angesehenen Konzilstheologen Professor Dr. Heinz Schürmann besetzt, der ebenfalls Paderborner Diözesanpriester war.743 Er war über 15 Jahre lang Mitglied der Internationalen Theologenkommission und war in der Nachfolgefrage für Weihbischof Rintelen einer der aussichtsreichsten Kandidaten. Regelmäßig und von Anfang an bezog er die Hallenser Rundbriefe und nutzte die dort veröffentlichten Artikel auch für seine akademische Lehrtätigkeit.744 Zu Claus Herold pflegte er über Jahre einen engen Kontakt.745 1977 hatte ihn Pfarrer Herold im Auftrag des AKH-Sprecherkreises als Referenten für eine Vollversammlung eingeladen.746 Die Replik Schürmanns offenbarte, dass es sieben Jahre nach der umstrittenen Gründung des AKH einem Erfurter Professor nicht ohne erhebliche Bedenken möglich schien, an einer AKH-Vollversammlung als Referent teilzunehmen.747
Ein dritter Professor und zugleich Magdeburger Diözesanpriester, der langjährigen Kontakt zum AKH pflegte, ist der Erfurter Alttestamentler Georg Hentschel748. Auf das Jahr 1971 datiert der erste Brief von Georg Hentschel an den Kreis, in dem er sich mit eigenen thematischen Impulsen an die Gruppe wandte.749 Zugleich bemerkte er hinsichtlich seines eigenen Engagements: „Solange der AKH besteht, werde ich ihm Interesse entgegenbringen, auch wenn ich vielfach skeptisch bin, ob Sie immer auf die wesentlichsten Punkte hinsteuern. - Wenn ich mal allzu viel Zeit habe, lasse ich mich auch selbst wieder sehen.“750 Professor Hentschel verfasste 1980 einen Brief an den Nienburger Pfarrvikar Willi Verstege, der zu jener Zeit die Kontaktadresse für den AKH stellte. Auch in diesem Brief deutet sich ein Korsett der Erfurter Professorenschaft an, das schon Löwenberg und Schürmann veranlasst hatte, von einer offenen Unterstützung des Aktionskreises Abstand zu nehmen: „Lieber Herr Verstege! …Wer etwas lobenswert findet, der sollte mit dem Lob auch nicht sparen. Lobenswert ist aber die Anstrengung des AKH, uns mit seltenen Informationen zu versorgen. Ich denke besonders an den Vortrag von Hans Küng in Peking, aber auch an den Brief des A. Khomeni. Selbst wer wie ich hier in Erfurt an der Quelle theologischer Information sitzt, ist dankbar für dieses oder jenes, das wir entweder vermissen oder übersehen. Ich hoffe immer noch darauf, eines Tages mehr Zeit zu haben, um mich in der einen oder anderen Richtung engagieren zu können. Doch noch bin ich so beansprucht, dass mich die Einladungen des AKH nicht rühren dürfen. In den wenigen Mußestunden, die mir verbleiben, denke ich freilich immer wieder darüber nach, was ich mit meinen Kräften tun könnte, um die allgemeine Depression gerade im Magdeburger Raum abzubauen. Hier in Erfurt sind wir demgegenüber doch in einer recht glücklichen Lage. So viel für heute an privater Sonntagsbetrachtung. Ihnen und dem ganzen AKH wünsche ich Erfolg bei der Arbeit und die Zuversicht, die die traurigsten Verhältnisse überwindet. Mit herzlichen Grüßen gez. Georg Hentschel.“751
Ein Professor durchbrach allerdings die offensichtlich „politisch“ gewollte Distanz zwischen dem Erfurter Studium und der Hallenser Basisgruppe. Konrad Feiereis, Ordinarius für Philosophie und Görlitzer Diözesanpriester, referierte auf Einladung des AKH-Sprecherkreises752 am 30. Oktober 1987 auf der Herbstvollversammlung des Kreises zum Thema „Dialog und Toleranz zw. Christen und Marxisten in der DDR.“753 Professor Feiereis war spätestens seit seinem bahnbrechenden Vortrag „Zusammenleben und Kooperation von Christen und Marxisten in der Gesellschaft“754 auf einem internationalen Symposion in Budapest im Jahr 1986 der entscheidende katholische Philosoph in der DDR, der die Möglichkeiten eines Dialoges zwischen Christen und Marxisten mit bischöflichem Placet erörterte. Der AKH hatte dieses Referat in Vorbereitung auf den Vortragsabend im Juni-Rundbrief 1987 veröffentlicht.755 Der gutbesuchte Vortrag des Erfurter Professors auf der Hallenser-Tagung sollte nicht folgenlos bleiben. In einem autorisierten Zeitzeugeninterview hielt der päpstliche Ehrenkaplan und spätere Träger des Bundesverdienstkreuzes Professor Konrad Feiereis folgende Schilderung der sich an seinen Vortrag anschließenden Ereignisse fest: „Die Erfurter Professoren sind bewusst nicht zum AKH gefahren. Sie haben sich ausdrücklich herausgehalten, denn es gab die stille Abmachung untereinander, dass man das Verhältnis zwischen Bischöfen und Fakultät nicht stören wolle. Ich bin aber hingefahren, weil ich mir dachte und das dachten viele Kollegen auch, diese Zeiten sind vorbei. Man kann jetzt nicht mehr schweigen…Am darauffolgenden Mittwoch tagte wie üblich die Erfurter Professorenkonferenz. Frau Funke756 hat mich aus der Professorenkonferenz rausgeholt und erklärt: ‚Kardinal Meisner ist am Telefon‘. Im anschließenden Gespräch hat mir der Kardinal eine Philippika gehalten und dabei gesagt: ‚Konrad, wie kannst Du dort zu diesen Leuten gehen, die gehören doch gar nicht richtig zur Kirche.‘ Es sei eine große Enttäuschung für ihn.“757 Noch am Telefon hat Konrad Feiereis seinen Rücktritt angeboten.758 Nach dem Telefonat unterrichtete Professor Feiereis die noch versammelte Professorenkonferenz von den Ereignissen. Nach verschiedenen Vermittlungsversuchen hat sich der Berliner Kardinal förmlich bei Professor Feiereis entschuldigt.759
Diese Schilderungen verdeutlichen nochmals in zugespitzter Form die Situation, in der sich die Erfurter Professorenschaft hinsichtlich des Aktionskreises Halle befand. Eine ausdrückliche Sympathie für die Aktionen und Motive der Basisgruppe dürfte, wenn überhaupt, nur bei einer Minderheit der Professoren vorhanden gewesen sein. Der Empfang der Rundbriefe und die persönlichen Beziehungen einzelner Ordinarien zu verschiedenen Gründungsvätern des AKH haben aber über die Jahre hinweg dazu beigetragen, den Austausch auf der Ebene des Inoffiziellen aufrechtzuerhalten. Die ostentative Zurückhaltung einzelner Professoren hinsichtlich einer Teilnahme an AKH-Sitzungen bekommt vor dem Hintergrund der von Professor Feiereis konzedierten internen Absprachen eine weitere Erklärungsmöglichkeit. Die Raison der Professorenschaft genoss vor den Interessen der einzelnen Professoren uneingeschränkten Vorrang. Offensichtlich war es erst Mitte der 80er Jahre einem Görlitzer Diözesanpriester und Professor für Philosophie, dessen Kernthema der Dialog war, möglich, die letztlich von den Bischöfen und den Erfurter Professoren errichtete Demarkationslinie gegenüber dem AKH aufgrund pastoraler Erwägungen zu überschreiten. Dieses Vorgehen von Konrad Feiereis war kein Ausdruck mangelnder Loyalität gegenüber den Trägerbischöfen des Erfurter Studiums. Die Einstellung von Professor Feiereis trägt vielmehr Spuren jenes innerkirchlichen Aufbruchs in den achtziger Jahren, der bestehende ideologische Grenzziehungen und Denkverbote zugunsten der kirchlichen Verantwortung für die Menschen in der DDR zu überwinden suchte.
II.BASISKIRCHLICHE ENTFALTUNG KONZILIARER AUFBRÜCHE
Aus der bisherigen Darstellung des Aktionskreises Halle ist seine enge Rückgebundenheit an Geist und Buchstaben des II. Vatikanums deutlich geworden. Seine Gründung, Struktur und Orientierung wären