Dass zu diesem Mosaik auch diejenigen beitragen, die Jahrhunderte vor der kritischen Bibelwissenschaft die Schrift ausgelegt haben, ist für Berger selbstverständlich. Bedauerlich, dass er erst im reifen Alter Thomas von Aquin, auch als Bibelkommentator, entdeckt hat. Was freilich weniger über Berger als über den deutschen Wissenschaftsbetrieb aussagt. Von dem Dominikaner Thomas hörte ich ihn neulich sagen : „Er war unfähig, dummes Zeug zu reden.“ Ein besonderes Faible hat Berger für die Zisterzienser des 12. Jahrhunderts und für Alphonsus Tostatus (= „der Geröstete“) von Ávila aus dem 15. Jahrhundert entwickelt. Mit Letzterem teilt er die erstaunliche Produktivität und rege Publikationstätigkeit.
Klaus Berger habe ich zum ersten Mal im Würzburger Rudolf-Alexander-Schröder-Haus, einem evangelischen Bildungszentrum, erlebt ; das muss Anfang der 1990er Jahre gewesen sein. Schon damals beeindruckte mich nicht nur seine imposante Gestalt, sondern vor allem, dass er ohne jede Polemik gegen katholische Kirche und Theologie auskam. Das hatte ich nicht erwartet. Erst später wurde mir klar, dass er selbst Katholik gewesen und, wie er insistiert, im Herzen immer geblieben ist. Aus welchen Gründen ihm der „gerade“ Weg in der von ihm geliebten Kirche und in das Weihepriestertum hinein versperrt blieb, erfährt der Leser in diesem Buch aus seinem eigenen Mund. Das muss auch den erschüttern, der noch heute Zweifel hegt, ob Bergers Darstellung in der FAZ vom 13. August 2005, er habe seit 1974 dank großzügigem Entgegenkommen einfach „evangelische Kirchensteuer bezahlen“ dürfen, befriedigen kann. Der „Skandal“ von 2005, als Bergers Katholizismus publik wurde, hat seine Spuren hinterlassen. „Der Wanderer zwischen beiden Welten“, Klaus Berger zwischen evangelischer Theologenausbildung und katholischem Selbstverständnis, kam dabei fast unter die Räder. Für ihn wie für Walter Flex, den Autor jenes Buches über den Ersten Weltkrieg, dessen Titel zum geflügelten Wort wurde, „ein Kriegserlebnis“ (so der Untertitel). Als Predigerbruder in der Tradition des heiligen Dominikus, dessen Lieblingsevangelium und ständiger Begleiter das Matthäusevangelium war, erlaube ich mir mit Mt 7,1 zu erinnern : „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet !“ Der Interviewpartner Veit Neumann, Journalist, aber auch Pastoraltheologe, hat sich jedenfalls daran gehalten.
Ein zweites Mal hörte ich Klaus Berger 2002, wieder in Würzburg, auf einem Schiff mit dem bezeichnenden Namen „Alte Liebe“. Da sprach er über den „Dienst vor Gottes Thron. Die Gegenwart Gottes in der alten Liturgie“. Für Exegeten, auch für fortschrittsgläubige Katholiken – fünf Jahre vor Benedikts XVI. Motuproprio Summorum pontificum – ein No-Go. In meinem Tagebuch fand ich über Berger die Anmerkung : „Unprätentiös, aber felsensicher ! Die tridentinische Messe als die angemessene Form der Anbetung Gottes im Sinne der Heiligkeitskonzeption der paulinischen Herrenmahltradition.“ Tatsächlich hat Klaus Berger mit der bis weit in die Alte Kirche zurückreichenden Messform kein Problem. Ihm ist bewusst, dass sich in den alten Texten, Formen und Gesten wie in einem Speicher erhalten hat, wie frühere Christen das Wort Gottes ausgelegt haben. „Liturgie“, sagte Berger im Frühjahr 2014 in Eichstätt, „ist der eigentliche Ort der Schriftauslegung.“ Kenner des sog. gregorianischen Chorals können dies nur bestätigen.
Durch alle Sätze, die ich seitdem von Klaus Berger gehört, gelesen habe, dringt zu mir eine tiefe Liebe zur Heiligen Schrift, zur Einen Heiligen und Apostolischen Kirche, zu Jesus Christus – in dieser Kette der Vermittlung. Anders als die vielen blutleeren Gestalten, die das wechselseitige Promotions-, Habilitations- und Zitationskartell an die Katheder des theologischen Betriebs spült, erfüllt ihn eine Leidenschaft für die Sache, die seinesgleichen sucht. Um mutig für eine Einsicht, eine Überzeugung einstehen zu können, bedarf es eines gesunden Schusses Zorn. Nach dem heiligen Thomas nimmt der Tapfere „moderaten Zorn“ in seine Handlung auf (iram moderatam assumit fortis ad suum actum), um ihr Nachdruck zu verleihen (Summa Theol. II-II, 123, 10) und „das Übel anzuspringen“. In diesem Sinne ist Berger ein begnadeter Polemiker. Auch davon wird sich der Leser dieses Interviews überzeugen können. Und es ist ihm zu wünschen, dass er auch Humor hat und nicht jedes Wort auf die Goldwaage legt.
Kann man sich bei Theologievorlesungen überfüllte Hörsäle vorstellen ? In Heidelberg war es zu erleben. Legendär sind Bergers Nikolaus-Vorlesungen, die er über viele Jahre hinweg am 6. Dezember hielt. Witz, Humor, polemische Spitzen trugen – neben aller Gelehrtheit – dazu bei. Als Exeget „mit Leib und Seele“ geht es ihm nicht um Erbsenzählerei, sondern um die „Tiefendimension“ der neutestamentlichen Texte. Dass er diese gleichwohl auswendig und mit allen philologischen Raffinessen sowie mehreren ihm geläufigen Sprachen erschließen kann, wird da niemanden mehr überraschen. Berger war es auch, der das fast Unmögliche bewerkstelligte : eine Zusammenschau der unterschiedlichen neutestamentlichen Traditionen und Phasen. Die „Theologiegeschichte des Urchristentums“ (2. Aufl. 1995) halte ich für sein bestes Fachbuch.
Dass Theologie und Bibelauslegung mit der eigenen Biographie zusammenhängen, konnten wir bereits feststellen. Berger geht noch einen Schritt weiter. Danach „ist Biographie Theologie und umgekehrt“. Warum, so fragt man sich, entdecken dann heute so wenige Menschen ihr Leben als Offenbarungsbuch, als ein Werk, in das Gott sich einschreibt ? Es liegt wohl hauptsächlich an der Sprache. „Wir haben uns sprachlich selbst eingeengt“, sagte Berger in seinem Vortrag an der Katholischen Universität in Eichstätt. Gemeint sind die Theologen. Wohl deshalb gelten Theologen, gelten überhaupt Christen im säkularen Umfeld als „intolerant“. Umso dringender wäre es, nach einer Sprache zu suchen, die das von Gott geschenkte Leben und das eigene Erleben wieder näher zusammenbringt. Ohne „Ökumene des Weglassens“ (Berger). Ohne Anbiederung an Moden und Ideologien. Ich freue mich, in Klaus Berger einen gläubigen Theologen zu wissen, der an dieser Aufgabe arbeitet.
Wolfgang H. Spindler OP
1. Biographie ist Theologie und Theologie ist Biographie
Wozu eigentlich ein Buch mit Gesprächen ?
Lieber Herr Berger, wir kennen uns bisher, bis zu diesem Moment, da wir diese Gespräche beginnen, nur wenig. Ich bin gespannt auf das, was Sie über Theologie und ihre Bedeutung für Ihr Leben sagen werden. Die Öffentlichkeit liest mit. Aber Theologie wäre keine Theologie, wenn sie nicht öffentlich wäre.
Denn außer Gottesdienst und Hirtenbriefen gibt es seit 1000 Jahren in steigendem Maße weitere Marktplätze kirchlicher Öffentlichkeit. Dazu gehören auch die Theologischen Fakultäten und die Pädagogischen Hochschulen und andere Orte, an denen Menschen im Sinne der Kirche geprägt werden. Das zwingt den Theologen selber dazu, sich klar und damit auch angreifbar auszudrücken. Wenn man dann im Laufe der Zeit klarer und eindeutiger wird, dann liegt das daran, dass ein Prägestempel härter sein muss als das, was er formt.
Können Sie ohne weiteres über die Bedeutung der Theologie für Ihr Leben sprechen ? Sonst stehen doch viel eher die theologischen Fragen selbst im Zentrum der Aufmerksamkeit, die das Neue Testament und sein Umfeld betreffen.
Eigentlich ist mein Leben nicht Gegenstand meiner Lehre. Außer in der Beichte habe ich keine Zeit, darüber nachzudenken. Aber es stimmt nun einmal, dass Theologie Biographie ist. Und so verstehe ich Ihr Anliegen.
Gibt es eine Theologie, die nicht wesentlich in der Biographie desjenigen verankert ist, der sie betreibt ?
Eine solche Theologie gibt es nicht. Biographie ist Theologie und umgekehrt. Und deshalb veranstalten wir diese Gespräche. Es geht hier nicht um abstrakte Lehren, bei denen man sagen könnte, sie seien richtig oder falsch, rechtgläubig oder das Gegenteil davon. Sondern es geht um einen Menschen, der notgedrungen und – Gott sei Dank – von der Wahrheit Zeugnis geben muss und diese Wahrheit irgendwie widerspiegelt. Ohne dieses Zeugnisgeben als Zwischenglied für die Wahrheit geht es nicht.
Aber können ungünstige biographische Erlebnisse die Art, Theologie zu betreiben, in einem ebenso ungünstigen Sinne beeinflussen ? Dagegen ist die Theologie auf eine objektive Dimension angewiesen.
Die objektive Dimension, auf die Sie mich ansprechen, wird dadurch dargestellt, dass es auch noch andere Theologen gibt. In der katholischen Kirche hat es nie das Prinzip des einzigen Lehrers