Die Theologie als Abenteuer. Klaus Berger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Berger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Религия: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783429061821
Скачать книгу
Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben. Und wer meint, es für seine Person tun zu können, muß sich klarmachen, daß er, wenn er das für die Haltung des christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht.“ Dabei veranschaulichte Bultmanns Analogie, „existential“ betrachtet, kaum mehr, als dass der heideggernde Theologe Glühbirnen, Radiogeräte und Gerätemedizin noch Mitte des 20. Jahrhunderts für Wunder (der Technik) hielt.

      Als besonders traditionalistisch erweist sich der mainstream der sog. biblischen Einleitungswissenschaft. Weil der (zweite) Tempel in Jerusalem bekanntlich im Jahr 70 n. Chr. zerstört worden ist, muss die Ankündigung Jesu, dass vom Tempel „kein Stein auf dem andern bleiben“ werde (Mk 13,2 parr.), als ein ihm von den Synoptikern Markus, Matthäus, Lukas nachträglich in den Mund gelegtes vaticinium ex eventu gewertet werden. „Die in Vers 2 enthaltene Prophetie läßt sich schwerlich auf Jesus zurückführen. Zu deutlich schildert sie den Zustand, den das Tempelgelände nach dem Römisch-Jüdischen Krieg bot“, schreibt der hochangesehene Münchner Exeget Joachim Gnilka in seinem Markus-Kommentar (4. Aufl. 1994). Will heißen : Markus lässt Jesus ankündigen, was in Wahrheit längst passiert ist – ein Täuschungsmanöver ! Ebenso die Parallelen bei Matthäus und Lukas, die Markus als Quelle nutzen. Dabei fragt sich jeder unvoreingenommene Leser, warum die Synoptiker ebengerade nicht „schildern“, sprich : veranschaulichen oder näher darstellen, was bei der – angeblich bereits vergangenen – Tempelzerstörung geschehen ist. Warum werden nur die Trümmer erwähnt, wenn doch die Tempelzerstörung als geschichtliche Katastrophe katexochen in Einzelheiten beschrieben werden könnte ? Warum lässt Markus Jesus nur wenige Verse später (13,14) dasselbe Ereignis noch einmal ankündigen, diesmal freilich in apokalyptischer Sprache (vgl. dazu Dan 9,27 ; 11,31 ; 12,11), und warum so eng verknüpft mit allerlei apokalyptisch-kosmischen Zeichen, die nach der Zerstörung des Tempels durch Titus offenkundig ausgeblieben sind ? Längst sind viele weitere Fragen und Argumente nicht zuletzt von Historikern und Klassischen Philologen zusammengetragen worden, die das bibelwissenschaftliche Dogma von der Spätdatierung aller vier Evangelien „nach 70“ – das große Tabu schlechthin – und andere Scheingewissheiten erschüttern müssten. Vergebens ! Selbst kirchenoffizielle Bibelausgaben halten am Unhaltbaren fest. Mancher wird einwenden : Spielt denn die Entstehungszeit überhaupt eine Rolle ? Die Frage nach dem terminus post quem ist deshalb so dringlich, weil Spätdatierungen im Hinblick auf Jesus als historische Person Zeitzeugenschaft ausschließen. Sie bilden das Einfallstor für allerlei „Einschübe“, „Redaktionen“, „Hinzufügungen“ und – sagen wir es deutlich – Phantastereien angeblich von „Parusieverzögerung“ gelähmter Christen und anonymer „Autorenkollektive“, die zu unterstellen manche Exegeten offenbar ungestillte Lust verspüren.

      Als Absolvent der Rechtswissenschaften wunderte ich mich schon in den ersten Semestern Theologie, wie hartnäckig hier an Vorurteilen und fraglich gewordenen Prämissen festgehalten wurde. Das wäre unter Juristen undenkbar gewesen. Immerhin lernte ich so das alte Subtraktionsverfahren kennen, bei dem „Schicht um Schicht“ verschiedene „Bearbeitungen“ vom Evangelienstoff abgetragen werden, bis etwa vom „Menschensohn“ des Bibeltextes historisch einigermaßen sicher übrigbleibt, dass er ein „Fresser und Säufer“ (Lk 7,34 ; Mt 11,19) war. Wie gut, dass Vergleichbares mit Autoren des 20. Jahrhunderts nicht angestellt wird ! Ein kluger Studienrat demonstrierte einmal in einem Zeitungsartikel, wie viel das Schichtungsmodell, auf Franz Kafkas Roman „Der Prozeß“ angewandt, übrigließe. Nicht nur würde man wohl die Entstehung des Romans wegen des berühmten Anfangssatzes („Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“) statt auf vor 1914 fälschlicherweise auf die Jahre 1933 ff. datieren ; vor allem wäre man sich einig, dass die im Roman enthaltene „Türhüter-Parabel“ von einem „Redaktor“, sagen wir von Max Brod, später „eingefügt“ worden sei. Tatsächlich aber beweist das handschriftliche Originalmanuskript einwandfrei : Kafka hat den ganzen Text, von geringfügigen Retuschen abgesehen, in einem Zug geschrieben. Der Wechsel der Gattungen innerhalb des Werkes geht allein auf ihn zurück. Von mehreren Verfassern, gar einem „Kollektiv“ keine Spur !

      Das Paradoxe daran ist : Die Verunsicherung, die durch einander ablösende und widersprechende Hypothesen im Laufe der Jahrzehnte verursacht wird, beruht auf einem Sicherheitsbedürfnis. Weil man der kirchlichen Überlieferung oft auch aus außerwissenschaftlichen, in der Biographie liegenden Gründen nicht (mehr) traut, sucht man anderswo Halt. Trotz brüchiger Grundannahmen wird der jeweils „neueste Stand der Forschung“ zur Ersatzautorität, ja zum Fetisch. Schizophrenien bleiben nicht aus. Ich kenne katholische Geistliche, darunter Professoren, die unter Aufzehrung ihres von der Mutter erworbenen Grundvertrauens einen Glauben praktizieren, dessen Wahrheitsgehalt sie vom „objektiv“-wissenschaftlichen Standpunkt aus bestreiten. Die Wechselbeziehung zwischen Kirche und (biblischem) Kanon ist gestört ; die Einheit des Raumes, aus dem die Jesusüberlieferung hervorgegangen ist, in dem sie durch die Jahrhunderte transportiert und sinnvollerweise auch interpretiert wird, ist von Ideologien überfrachtet, wenn nicht ersetzt. Seitdem herrscht die Hermeneutik des Verdachts. Wie ehedem die Häresien verzerren heute die Ideologien das Bild des Guten Hirten, der gekommen ist, damit die Schafe „das Leben haben und es in Fülle“ – und nicht in Form eines trockenen Lehrgerippes – „haben“ (Joh 10,10). Dabei wäre es die große theologische Herausforderung, sperrige, schwierige, unzugänglich erscheinende, rational nicht immer auflösbare Bibeltexte sich in einem Prozess jahrelangen Nachdenkens und Er-Betens zu erschließen. „In dem Maß, wie unser Geist sich durch dieses Studium erneuert, in dem Maße beginnen auch die Schriften ein neues Gesicht anzunehmen“ (Cassian, Coll. 14). Denn zweifellos sind diese Texte nicht wörtlich vom Himmel gefallen. Die Alternative zur historischen Kritik ist nicht eine geschichtslose Wort-für-Wort-Inspiration oder ein schwärmerisch-evangelikaler Fundamentalismus. Ohne weiteres können sich in dem hochkomplexen interaktiven Überlieferungsprozess gerade des Neuen Testamentes Passagen „eingeschlichen“ haben, die nicht direkt aus dem Mund Jesu oder etwa des Paulus hervorgegangen sind. So what ? Ist ein Jesus-Wort dadurch „unecht“, dass es von denen, die es angeht, nämlich die Christen in den entstehenden Gemeinden, in je eigener, unterschiedlicher Weise rezipiert und weitergegeben worden ist ? Oder um noch einmal Mk 9,1 aufzugreifen : Haben vielleicht nur wir eine falsche Vorstellung von der „Dynamik“ (so wörtlich) des gekommenen Reiches Gottes, sodass wir seit dem 19. Jahrhundert zum Problem erheben, was für den Verfasser und die Adressaten des Evangeliums überhaupt keines war ? Denn wenn es eines gewesen wäre – warum hat es der Evangelist nicht geglättet oder getilgt ?

      Wen die geschilderten Aporien nicht unberührt lassen, der sucht nach Alternativen. Gibt es auch eine andere Bibelwissenschaft ? Ja, gottlob, die gibt es ! Das vorliegende Interviewbuch stellt einen Theologen vor, der seit mehr als einem halben Jahrhundert einen anderen Umgang mit der Schrift pflegt. Klaus Berger macht ihr keine Vorschriften. Er hält dem Neuen Testament, dem er sich Tag für Tag widmet, nicht vor, warum es so und nicht anders ist – etwa wie es nach Erwägungen neuzeitlicher Weisheit „ursprünglich“ gewesen sein müsste. Für seine Art, das Neue Testament auszulegen, findet er treffliche Bilder. Exegese ist für ihn wie ein Pullover, den es zu stricken gilt. Die Schrift lässt sich nicht schichtenweise abtragen wie ein Sediment oder ein Präparat. Ihre Zusammenhänge ergeben sich vielmehr durch die Fäden eines im Entstehen begriffenen Gewebes. Die Stricknadeln, sagt er, sind „die Liturgie und das katholische Grundgefühl“, Sujets also, loci theologici, die quer zu dem stehen, was in der modernen Bibelwissenschaft, zumal an einer protestantischen Theologiefakultät wie der in Heidelberg, seinem jahrzehntelangen Wohn- und Arbeitsort, üblich ist. Ein anderes Bild, das Berger einmal geprägt hat, ist das des „offenen Mosaiks“. Wenn zutreffend gesagt wird, Jesu Botschaft habe sich zentral um das Reich Gottes gedreht, dann heißt das nicht, dass andere „Themen“, etwa Gerichtsandrohungen, als „unecht“ auszuschließen sind. Geradezu lächerlich wird es – nach meiner Ansicht –, wenn Paulus als Autor eines Briefes verneint wird, nur weil in diesem andere Gedanken als in den für „echt“ gehaltenen Paulus-Briefen vorgetragen werden. Schreibt jemand den gleichen Brief mehrmals ? Kausalitäten lassen sich nicht bejahen, indem man Ersatzursachen