2.4.2. Herausforderungen beim Typisieren nach Riso und Hudson
An dieser Stelle wird gezeigt, was das Typisieren erschweren kann und worauf geachtet werden sollte, wenn Personen typisiert werden. Die Ausführungen werden Risos/ Hudsons Buch „Understanding the Enneagram. The practical guide to personality types“388 entnommen. Die nachfolgenden Ausführungen sind somit Wiedergaben und Kommentare zu Risos und Hudsons Arbeit.
Riso und Hudson begründen die Wichtigkeit einer richtigen Typisierung in Bezug auf den Wachstumsprozess, nämlich, dass der Einstieg in den Wachstumsprozess mit dem Enneagramm als Prozessmodell mit einer Typisierung beginnt. Wenn eine Typisierung nicht richtig ist, so Riso und Hudson, bringt einem das enneagrammatische Wissen nichts Weiteres als etwas Interessantes (fascinating curiosity). Problematisch wird es, wenn durch das Enneagramm Interesse für das Wissen um den Anderen geweckt wird und dadurch der Blick für das Eigene verloren geht.389 Man analysiert und bewertet andere Menschen auf eine pseudo-psychologische und spirituelle Art, wenn einem zugleich die Arbeit an sich selber nicht am Herzen liegt. Man vermittelt etwas, ohne ein persönliches Zeugnis und die Überzeugung darüber ablegen zu können. Dies kann mit Jesu Mahnung verglichen werden, nämlich den Splitter im Auge des Anderen herausnehmen zu wollen, aber den Balken im eigenen Auge nicht wahrnehmen zu wollen. (Mt 7,3).
Im Weiteren die Gedanken Riso/Hudsons über Herausforderungen bei der Typisierung:
- Sogar wenn alle wichtigen Merkmale des Enneagramms berücksichtigt werden, ist es kaum möglich, dass man sich völlig sicher über alle ausgeführten Typisierungen sein kann. Denn eine Person ist mehr als eine typologische Zusammenstellung menschlichen Verhaltens. Darüber hinaus ist das Enneagramm, wie vorhin gezeigt, ein komplexes „System“, das sich auf einzelne Menschen bezogen als verwirrend erweist.390
- Da ein Individuum mehr als die typologische Beschreibung ist, reichen die Beschreibungen für alle Aspekten des menschlichen Verhaltens nicht aus. Es braucht viel Zeit und Übung, um überhaupt eine grundlegende Übereinstimmung der Myriade an menschlichem Verhalten und die enneagrammatischen Beschreibungen zu verstehen.391
- Jedem sollte bewusst sein, dass nicht alle Eigenschaften, die einem Typ zugeteilt sind, als letzter Schlüssel zum Typisieren gelten können.392 Eine gewisse Spannbreite sollte immer beachtet werden.
- Die Komplexität des Enneagramms birgt in sich die Gefahr der Verwechslung der Typbeschreibungen. Bei über 486 Variationen der Enneagramm-Muster kommt es vor, dass sich ein gewisses Verhalten bei mehreren Mustern bemerken lässt. Um die Nuancen in den Ähnlichkeiten der Muster zu zeigen, wird ein großer Teil des Buches darauf verwendet zu zeigen, worin jeder Typ sich von dem anderen unterscheidet. Hier wird besonders auf die mögliche Motivation für ein auf den ersten Blick gleich zu bewertendes Verhalten hingewiesen.393
- Im Großteil der Enneagramm-Literatur und der Vermittlung des Enneagramms werden die Enneagramm-Typen auf eine „klischeehafte“ Art präsentiert, sodass die Typen nur mit bestimmten speziellen Eigenschaften identifiziert werden. Das Problem liegt hier darin, dass nicht alle Menschen, die zu einem Typ „gehören“, die üblichen Eigenschaften vorweisen. Riso und Hudson nehmen Muster Neun als Beispiel, um zu zeigen, dass es Menschen gibt, die reizbar oder sogar aggressiv sein können, obwohl sie Muster Neun haben, welches normalerweise als harmonisch und friedvoll präsentiert wird.394
- Wenn man keine Erfahrung mit den unterschiedlichsten Arten (Erscheinungsformen) eines Typs hat, kann es mit der Typisierung schwierig sein. Sogar wenn Personen den gleichen Typ haben, sollte verständlich sein, dass sie sich in ihrer Individualität und Verhaltensweise voneinander unterscheiden.395
- Wie weiter gezeigt wird, ist es sicherer, Menschen zu typisieren, denen man begegnet ist396 – in diesem Fall, indem man mit ihnen persönlich spricht. Dadurch kann es dazu kommen, dass über die Motivationen hinter einem Verhaltensmuster gesprochen wird. Denn hinter einem Verhalten stecken unterschiedliche Motivationen. Es mag möglich sein, dass Menschen typisierbar sind, ohne mit ihnen in direkten Kontakt getreten zu sein, weil sie die „typischen“ Verhaltensmuster eines Musters zeigen.397 Meiner Ansicht nach ist die zweite Variante aus Gründen, die später noch angesprochen werden, möglichst zu vermeiden: denn „Verhalten ist nicht immer das, was es zu sein scheint […]. Um die Bedeutung einer einzelnen Handlungsweise zu verstehen, müssen wir Informationen über das Individuum wie auch über die Situation haben, auf die sich die Handlungsweise bezieht.“398
- Es braucht viel Zeit und Übung, um das Verhalten unterschiedlicher Personen in Bezug auf die Enneagramm-Typbeschreibungen zu verstehen. Dementsprechend verlangt die Arbeit mit dem Enneagramm nicht nur ein fundiertes Wissen über die Theorie der Verhaltensmuster, sondern auch Interesse an Menschen und ihrem Verhalten – ihren Lebenswelten, ihren Wünschen, Motivationen und Lebensträumen. Wenn man diese Informationen erhalten hat, wird die Arbeit mit dem Typisieren erleichtert, aber vor allem hilft es den Menschen selber, dadurch, dass ihnen die Chance eingeräumt wird, sich zu besinnen und eigene Eigenschaften betrachten zu können, aber darüber hinaus zu lernen, sich dem Anderen zu öffnen.399
- Das Typisieren ist in sich selber eine schwierige Aufgabe. Diese Aufgabe wird umso schwieriger, weil es tatsächlich große Gemeinsamkeiten zwischen den Enneagramm-Mustern gibt. Die Aufgabe des Typisierens besteht darin, die Gemeinsamkeiten auseinanderzudifferenzieren.400
Für denjenigen, der typisiert wird unterbreitet Garro folgende Vorschläge. Es sollte vermieden werden:
- aus Angst davor, was andere Personen über einen denken, sich fälschlicherweise ein anderes Muster anzueignen und sich selber zu überzeugen, dass man SO ist; und darüber hinaus sich entsprechend dem Muster verhalten.
- sich das Muster anzueignen, das einen am meisten anspricht oder wie man sich gern sehen/gesehen werden würde, statt ein Muster mit seinen Stärken und Schwächen anzunehmen,
- bei der „Auswahl“ einige Muster beiseitezuschieben, weil wir nicht allzu gerne so sein wollen. Alle Muster müssen in Betracht gezogen werden, auch wenn sie einem zuwider sind.
- das bei einer Typisierung „herausgefundene“ Muster, ohne sich selber Gedanken darüber gemacht zu haben, anzunehmen. Es darf selber überprüft werden, damit man sich selbst auch sicher sein kann und davon überzeugt sein kann – denn auch Menschen, die in der Typisierung geübt sind, können „Fehldiagnosen“ machen, wie später gezeigt werden wird.401
Garro geht weiter und schlägt vor, wie am besten typisiert und damit umgegangen werden kann. Sie gibt dabei nicht einen Weg vor, sondern zeigt verschiedene Möglichkeiten, die für die Typisierung hilfreich sein können. So schlägt sie als erstes vor, offen für die Beurteilung anderer zu sein, besonders derjenigen, die sich mit dem Enneagramm auskennen. Dieses Verfahren könnte dazu beitragen, dass Menschen in den verschiedensten Lebensbereichen lernen zu hören, wie andere sie wahrnehmen. Es ist eine Übung für Vertrauen und Respekt.
Auf sich bezogen rät Garro dazu, selber die vorhandenen Enneagramm-Tests zu nehmen, deren Treffgenauigkeit jedoch in Betracht zu ziehen. Bei allem sei es wichtig, auf die eigene Intuition zu hören, so Garro. Für diejenigen, die älter sind, wäre es angebracht, sich darauf zu besinnen,