«Man betrachte alle diese Dinge in dem Museum mit rechten Augen und bedenke dann die erstaunlichen Mengen gleichartiger Dinge, die notwendig in Gebrauch gewesen sind; man denke an die Millionen Teller, die während des hier vergegenwärtigten Zeitabschnittes hergestellt und in Gebrauch genommen werden mussten; danach erwäge man den Zugriff aller vorstellbaren zerstörenden Ursachen auf diese unermessliche Anzahl von Stücken; man denke an die Tonnen Scherben, an die Trümmerberge, die zu dem, was übriggeblieben ist, hinzuzurechnen sind; man denke an die Sterblichkeitsquote all dessen, was zerbrechlich ist; an die wahrscheinliche Lebensdauer einer Untertasse oder einer Gemüseschale… […]
Nichts gleicht dem bis zum heutigen Tage angehäuften Kapital unserer Kenntnisse, unserem Haben im Buche der Geschichte so, wie diese Sammlung von Dingen, die der Zufall uns erhalten hat. All unser Wissen ist wie sie ein Rückstand. Unsere Geschichtsurkunden sind Strandgut, das ein Zeitalter einem anderen überlässt, wie es der Zufall will, und in vollem Durcheinander.
Doch kundige und fromme Hände heben da und dort auf, was von diesen Überbleibseln übriggeblieben sein mag, ordnen sie nach bestem Wissen und Können und setzen sie, so gut sie es eben vermögen, zu einem Gesamtbild zusammen, das uns ans Denken bringt und Umrisse erkennen lässt. Wenn wir sagen: ‹Stil Louis XV›, geben wir in Wirklichkeit nur einer dieser Zusammenstellungen von Reliquien und immer wiederkehrenden Wiederholungen einen Namen – mit all der Willkür, die dazu gehört. […]
Wie viele Lücken! Sicherlich. … Doch lasst uns ein wenig weiterdenken: wir werden dann alsbald finden, dass, hätten wir das Ganze, wir damit ganz und gar nichts anzufangen vermöchten. Es gäbe nämlich dann für unseren Geist nichts zu tun.»
Paul Valéry: Variationen über die bebilderte Keramik, in: ders.: Über Kunst. Essays, Frankfurt a. M. 1959 [Fr. 1931], S. 158–165, hier 163f.
Inhalt
Debatte über die Mengenbildung
Blick auf spätere Mengenverhältnisse
Die Einführung von Nachweisakten 1937
Auf der Suche nach der «inneren Geschichte» der Objekte
Forschen in den 1930er- bis 1960er-Jahren
Jüngere Geschichte statt alternde Altertümer um 1970
Konservierung der stofflichen Seite der Dinge
Gegenwartsbezogene Vermittlung von historischem Wissen
Einleitung
Das erste Sammlungsstück, das die Besucherinnen und Besucher des Schweizerischen Nationalmuseum zu sehen bekommen, ist eine Postkutsche. Sie steht seit der Eröffnung des Museums 1898 am Eingang. Die Eidgenössische Postdirektion hatte das Gefährt damals dem Museum geschenkt, worauf die Museumsleitung es an diesem prominenten Platz aufstellte. Heute ist auf dem beigestellten Schild zu lesen, es sei die alte Gotthardpost, die 1842 bis 1882 am Gotthardpass im Einsatz war (Abb. 1 und Abb. 2).1
Ganz woanders befindet sich die «Weisse Masse in Glasbehälter», 2 ebenfalls ein Objekt aus der Sammlung des Schweizerischen Nationalmuseums. Es liegt im Sammlungsdepot des Museums in Affoltern am Albis. Vermutlich hatte eine Hilfskraft den Glasbehälter mit dem undefinierbaren Inhalt Anfang des neuen Jahrtausends gefunden und dann unter der Klassifikation «Objekt unbestimmt»3 inventarisiert. Damals wurden die über die Stadt Zürich verstreuten Depots des Nationalmuseums aufgehoben, die darin aufbewahrten Sammlungen wurden mit Strichcodes neu erfasst und in das ausgebaute Depot nach Affoltern am Albis verlegt (Abb. 3).4
Die zwei Objektbeispiele lassen erahnen, dass am Schweizerischen Nationalmuseum seit dem Ende des 19. Jahrhunderts sehr unterschiedliche Sammlungstätigkeiten ausgeübt wurden und auch ganz unterschiedliche Protagonisten daran beteiligt waren. Um diese vielfältige Sammlungsgeschichte des Schweizerischen Nationalmuseums geht es in diesem Buch.
Mit dem Sammeln von «Altertümern»5 wurde in der Schweiz auf bundesstaatlicher Ebene 1886 begonnen. Bald darauf beschlossen die eidgenössischen Räte, für die wachsende Sammlung ein Museum in Zürich zu gründen.6 Die Museumseröffnung im Jahr 1898 fiel in eine Zeit, in der das nationalstaatliche Sammeln in Europa äusserst populär war. Die meisten Länder hatten während des 19. Jahrhunderts Nationalmuseen und historische Museen errichtet.7 Weder die Krisen noch die Kriege der folgenden Jahrzehnte setzten den Sammlungstätigkeiten ein Ende. Beim Schweizerischen Nationalmuseum ist der Objektbestand von den anfänglich 8227 Objekten der ersten angekauften, archäologischen Sammlung auf gegenwärtig über 840 000 Objekte angewachsen.8
Weshalb bestehen diese Museen noch? Weshalb wurden Energie, Zeit und Geld in sie gesteckt? Wer engagierte sich für ihr Weiterbestehen? Und wie? Welche Tätigkeiten waren prägend? Und was für eine Rolle spielten die Sammlungsstücke dabei? Diesen Fragen will ich am Fall des Schweizerischen Nationalmuseums nachgehen und daraus allgemeine Schlüsse zur Geschichte der Nationalmuseen im 20. Jahrhundert ziehen, methodologisch verstanden als eine Verallgemeinerung innerhalb eines Falls.9 Ich werde die musealen Tätigkeiten während des 20. und 21. Jahrhunderts schildern sowie die Beweggründe für das stetige Weitersammeln und den Fortbestand des Schweizerischen