Nach der Scheidung der Eltern macht Valentino einen Sprung in seiner charakterlichen Entwicklung. Er wird selbstsicherer und unabhängiger. Seine Begeisterung für Wettkämpfe nimmt weiter zu. Nachdem er sein Talent beim Gokart-Fahren bereits gezeigt hat, entdeckt der Rossi-Clan 1989 das Pocket Bike, das damals schlagartig populär wird. An der Küste werden mit Strohballen improvisierte Rundkurse angelegt. Überall schießen Pocket-Bike-Vermietungen aus dem Boden. Im Sommer kann man mit den Mini-Motorrädern zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit Rennen veranstalten. Häufig liefern sich junge Leute nach dem Besuch eines der vielen Nachtlokale an der Adriaküste Rennduelle am Strand. Bei den Rossis steht eine Entscheidung an. Der Vater träumt nach wie vor von Autorennen. Auch für den Sohn hat dieser Traum bereits konkrete Züge angenommen. „Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, in dem wir beschlossen haben, dass ich den Motorradrennsport anpeilen werde“, erzählt Valentino, der in früheren Jahren Formel-1-Weltmeister hatte werden wollen. „Ich war 13 Jahre alt. Zwei Jahre war ich abwechselnd Gokartrennen und Pocket-Bike-Rennen gefahren. Gokart-Fahren ist vor allem in der Anfangsphase die seriösere Angelegenheit, weil es auch auf niedrigem Leistungsniveau schon recht professionell zugeht. Als Knirps findet man das Fahren auf vier Rädern prestigeträchtiger – vielleicht weil man noch klein ist und sich auf einem vierrädrigen Gefährt wichtiger vorkommt. Für mich jedenfalls war das Gokart-Fahren eine ernsthafte Sache, während ich das Motorradfahren eher als Spiel betrachtete. Nach und nach hatte ich trotzdem genug vom Gokart-Fahren. Im Winter 1992 war ich mit meinem Vater im Auto zwischen Tavullia und Cattolica unterwegs. Wir schwiegen. Irgendwo auf der Höhe von San Giovanni in Marignano sagte ich: Warum fahren wir eigentlich nicht Motorradrennen? Nie werde ich den Gesichtsausdruck meines Vaters vergessen. Zum einen freute er sich, denn das Motorrad war immer seine große Leidenschaft, auf der anderen Seite spürte ich seine Sorge, weil Motorradfahren viel gefährlicher ist als Gokart-Fahren. Und was meine Mutter dazu sagen würde, konnte ich mir lebhaft vorstellen …“ Den Ausschlag für das Motorrad gibt schließlich der wirtschaftliche Aspekt. „Diese kleinen Maschinen kosteten nicht viel. Eine Karriere als Autorennfahrer ist eine ganz andere Hausnummer“, erläutert Graziano. „Die kostete damals und kostet auch heute noch ein Vermögen. Schließlich müssen die Fahrer für ihren Platz hinter dem Steuer meistens bezahlen. Dazu hatten wir nicht das Geld. Deswegen entschieden wir uns für den Motorradsport. In diesem Bereich versprach Valentino sehr erfolgreich zu werden.“ Rossi übernimmt die Nummer 46, mit der sein Vater zu seinem ersten Grand-Prix-Sieg fuhr, setzt sich seinen Helm im Kevin-Schwantz-Design auf, den er mit seinem Lieblings-Ninja-Turtle verziert hat, und bestreitet 1991 sein erstes echtes Rennen. Noch im gleichen Sommer legt er insgesamt 15 Siege hin – ganz so, als hätte der Bursche die Umlaufbahn gefunden, in der er als strahlend heller Stern aufgehen sollte.
Diese mitunter unkontrollierbare Energie, die allen, die ihm nahestehen, immer wieder zu schaffen macht, hat sich Valentino bis heute bewahrt. „Er hatte immer seinen eigenen Kopf“, bestätigt Carlo Pernat. Der Italiener hat den Tag nicht vergessen, an dem er bei Aprilia fast seinen Hut nehmen musste wegen des jungen Rossi, der damals gerade seinen ersten Weltmeistertitel geholt hatte. Das war im Herbst 1997, ein paar Wochen nach dem letzten Grand Prix. In dem Jahr war Jacques Villeneuve mit seinem Williams-Renault Weltmeister in der Formel 1 geworden. Valentino ist ein eingefleischter Fan des kanadischen Rennfahrers. Sein großer Traum: Er möchte Villeneuve unbedingt persönlich kennenlernen. Jeden Tag drangsaliert er Carlo Pernat mit der Bitte, ein Treffen zu arrangieren. Aprilia und Renault verhandeln damals gerade über ein Co-Branding-Projekt und planen die gemeinsame Produktion eines Motorrollers. Dem Chef des italienischen Renndienstes gelingt es, anlässlich der Preisverleihung der „Caschi d’Oro“ – der „Goldenen Helme“ – im Rahmen der Motor Show in Bologna eine Abendveranstaltung auf die Beine zu stellen. „Wir hatten alle hohen Tiere von Renault und endlos viele Journalisten eingeladen“, erzählt Carlo. Das Fernsehen war da. Und wer war nicht da? Valentino. Um 20 Uhr waren alle auf der Suche nach Valentino. Er war verschwunden, mit seinen Kumpels oder einem Mädchen verduftet … Genaueres habe ich nie erfahren. Er hat mir nie auch nur die geringste Erklärung geliefert. An dem Tag hätte man mich um ein Haar an die Luft gesetzt.“
Valentino war immer schon ein Langschläfer. Selbst vor einem Grand-Prix-Rennen bringt er es fertig, bis in die frühen Morgenstunden wach zu bleiben und im Paddock herumzugeistern. Nicht selten muss man an die Tür seines Wohnmobils klopfen, damit er die Testläufe nicht verschläft. Rossano Brazzi, sein Chefmechaniker zu Aprilia-250-Zeiten, erinnert sich an ein Rennen, bei dem Valentino fast das Warm-up versäumte: Brazzi will sein Motorrad einstellen und wartet auf ihn, schließlich muss er ihn am helllichten Tag lautstark aus dem Bett trommeln, damit er sich in seine Lederkombi wirft. In seiner ersten Saison im 500er-Grand-Prix passiert ihm das gleiche Missgeschick in Barcelona. In dem Jahr ist Graziano für den Weckdienst zuständig. Unglücklicherweise kommt auch der Vater nur schwer aus den Federn. Valentino braucht ein bisschen länger zum Anziehen und kann nur noch ein paar Runden fahren, bevor das Warm-up zu Ende ist. Damit sich das nicht wiederholt, bittet er inzwischen seinen Chefmechaniker, ihn jeden Morgen aus dem Bett zu holen. „Ich habe einen ungewöhnlichen Stoffwechsel“, erklärt er. „Das ist übrigens auch der Grund, warum ich nie Probleme mit der Zeitverschiebung habe, wenn ich in der Welt unterwegs bin. Ich habe eine innere Uhr, die dafür sorgt, dass meine Lebensgeister immer am Nachmittag erwachen. Es stimmt, dass ich morgens nur langsam anlaufe und mich erst schlafen lege, wenn andere Leute zur Arbeit aufbrechen. Es stimmt auch, dass das absolut nicht der Rhythmus ist, den man bei einem Spitzensportler vermuten würde, aber es bedeutet nicht, dass ich ungesund lebe, trinke und esse, was ich will, oder nicht trainiere. Ich gehe einfach am Nachmittag in den Fitnessraum und nicht am Vormittag. Ich war schon immer gerne nachts wach. Da ist es – zumal auf den Rennstrecken – ruhig, und ich kann mich obendrein frei bewegen, ohne erkannt zu werden.“ In jungen Jahren handelt sich Rossi mit seiner Morgenmüdigkeit immer wieder Probleme ein, insbesondere nach dem Schulwechsel, als er auf einmal ins zehn Kilometer entfernte Pesaro fahren muss. Den Bus zu erwischen, ist immer wieder ein Drama. Unzählige Male muss Stefania ihn zur Schule fahren, weil er den Bus verpasst hat oder weil sein Motorroller gerade wieder in der Werkstatt ist. In der dunklen Jahreszeit kommt noch die Kälte dazu.
Deshalb kommt Valentino auf die Idee, sich eine Ape zuzulegen – jenes dreirädrige Kultmobil aus dem Hause Piaggio. Der Schlafgewinn ist beachtlich. Außerdem macht es Spaß, auf dem Weg in die Stadt die Straße als Rennstrecke zu nutzen. Hinzu kommt, dass das Gefährt eine Fahrgastzelle hat, die ihn im Winter praktischerweise vor dem für die Gegend typischen Nieselregen schützt. Die Idee findet bei seinen Klassenkameraden rasch Nachahmer, sodass sich die Landstraßen um Tavullia innerhalb kurzer Zeit in einen noch aufregenderen Tummelplatz verwandeln als zu Zweiradzeiten. Immer mehr wilde Wettrennen werden ausgetragen. Valentino erlangt allmählich eine gewisse Bekanntheit – vor allem bei den Carabinieri, die seine Teufelsritte kritisch beäugen und es auch nicht gerne sehen, dass die Fahrzeuge mit 140-cm3-Motoren bis zum Anschlag aufgemotzt