EINLEITUNG
EIN HELLER STERN AM MOTORRADHIMMEL
Am 18. August 1996 feiert Valentino Rossi auf dem Brno Circuit seinen ersten WM-Sieg. Damals fährt der 17 Jahre junge Bursche aus Tavullia eine Aprilia RSR 125 und kreuzt die Klingen mit Rennfahrern wie Jorge Martínez, Emilio Alzamora, Lucio Cecchinello, Garry McCoy, Masaki Tokudome oder Noboru Ueda. Bei diesem unvergessenen Großen Preis von Tschechien wurde ein Stern in seine Umlaufbahn geschossen. Niemand ahnte jedoch, welchen unglaublichen Weg dieser Stern am Motorradhimmel zurücklegen würde. 23 Jahre später zieht Valentino Rossi immer noch seine Bahn und behauptet seinen festen Platz am Firmament. So etwas hat es in der Geschichte des Motorradsports und überhaupt im Sport noch nicht gegeben. Der italienische Rennpilot wurde in allen Klassen, in denen er angetreten ist, Weltmeister und erhob das Motorradfahren zu einer Kunst und einer Wissenschaft. Mit seinem unstillbaren Wissensdurst in Sachen Technik und der angeborenen Gabe, die richtigen Leute um sich zu scharen, aber auch mit der Fähigkeit, sich immer wieder selbst zu hinterfragen, hält er sich an der Spitze und bewahrt sich dabei jenes kindliche Gemüt, das ihm scheinbar ewige Jugend verleiht. Seit über zwei Jahrzehnten feiert Valentino Rossi nicht nur andauernd Erfolge, sondern transformiert das Grand-Prix-Universum und wird in diesem Universum zu einer Legende. Besser gesagt: zu der Legende.
Es ist immer heikel, die Verdienste eines Champions mit denen von Champions anderer Epochen zu vergleichen. Als größter Champion galt lange Zeit Mike Hailwood, der ebenfalls neun Weltmeistertitel – davon vier in der Königsklasse – einfuhr. Bevor er in die Formel 1 wechselte, verschaffte sich der 1981 verstorbene Brite als Motorradrennfahrer Respekt und Bewunderung, weil er sich mit jeder beliebigen Maschine und auf jedem beliebigen Untergrund durchsetzte. Darum nimmt „Mike The Bike“ auch einen ganz besonderen Platz im persönlichen Pantheon von Valentino Rossi ein, der sich mit großer Begeisterung mit der Geschichte des Motorsports beschäftigt. Ein weiteres Beispiel ist Wayne Rainey: Der dreifache 500er-Weltmeister aus den USA verhalf dem Namen Yamaha Anfang der 1990er-Jahre zu großem Glanz. An diesen Erfolg konnte die Marke erst wieder 2004 anknüpfen, als Valentino Rossi auf den Plan trat. Der bewundert seit jeher den Siegeswillen und das Selbstvertrauen, mit dem Rainey jedes Wochenende aufs Neue seinen Gegnern trotzte, von denen die meisten leistungsstärkere Motorräder fuhren als er. Wenn man nach der Statistik geht, könnte man auch Giacomo Agostini mit 15 Titeln und 122 Siegen zum größten Champion der Motorsportgeschichte ausrufen. Allerdings gibt Valentino Rossi dabei zu bedenken, dass Ago die meisten seiner Erfolge in einer Zeit errang, in der er kaum Widersacher hatte und seine MV Agusta-Rennmaschinen der Konkurrenz drückend überlegen waren. Seit der ersten Motorrad-Weltmeisterschaft im Jahr 1949 gab es immer wieder ausgezeichnete Piloten und überragende Champions.
Aber nur Valentino Rossi ist es gelungen, zur Inkarnation dieser Disziplin zu werden, die vor allem in Italien und Spanien durch ihn zu einer prominenten Sportart wurde, die inzwischen genauso viele Zuschauer vor die Fernsehgeräte lockt wie der Fußball, der Radsport oder die Formel 1. Mit seinem Charisma zieht Rossi Fans aller Altersstufen von 7 bis 77 in seinen Bann. Er hat bewirkt, dass Tausende junger Menschen mit Begeisterung die Grand-Prix-Rennen verfolgen und eine immer größere Leidenschaft für den Motorradsport entwickeln. Aber auch die Großmüttergeneration hat den kommunikationsfreudigen Burschen mit seinem Enthusiasmus in ihr Herz geschlossen. Er ist die Galionsfigur einer Sportart, die bis dahin mit einnehmenden Protagonisten nicht gerade gesegnet war. Der Italiener muss nach seinen Pressekonferenzen durch geheime Türen entschwinden, sich am Flughafen hinter seiner Sonnenbrille verstecken, damit ihn niemand erkennt, den Lieferanteneingang nehmen, wenn er sich mit Freunden im Restaurant trifft. Er ist prominent und populär wie ein Rockstar und bekannter als jeder Motorradrennfahrer vor ihm. Valentino Rossi hat das Gesicht des Motorrennsports verändert – mit seinem Riesentalent, seiner Fantasie und vor allem seiner tief verwurzelten Leidenschaft. Mit diesen Eigenschaften behauptet er sich auf höchstem Niveau gegenüber heutzutage deutlich jüngeren Kontrahenten und wurde zu einer Ikone mit einer konkurrenzlosen Erfolgsbilanz – zu einem Stern mit einer ganz eigenen Umlaufbahn.
I.
KINDHEIT IN TAVULLIA
„Manche Lehrer geben ja mit Vorliebe Bemerkungen von sich, die die Schwächeren und weniger Selbstsicheren in Angst und Schrecken versetzen. Mit Selbstsicherheit hatte ich, ehrlich gesagt, nie ein Problem. Damit war aber auch klar: Die Schule und ich, wir passten einfach nicht zueinander. Ich hatte wenig Interesse am Unterricht. Meine Lehrer haben das schnell mitgekriegt. Sie warfen mir die finstersten Prophezeiungen an den Kopf – die sich zum Glück nicht bewahrheitet haben. Der schlimmste Schwarzmaler war mein Kunstgeschichtslehrer. Dieses Fach war mir, neben Mathe, am meisten verhasst. Glaubst du wirklich, dass du von deinen dämlichen Motorradgeschichten leben können wirst? fragte er mich immer wieder. Wenn ich daran zurückdenke, muss ich grinsen.“
Der Vater war in gewisser Weise der Vorläufer des Sohnes. Graziano Rossis Karriere war bei Weitem nicht so ruhmreich wie die seines Sprösslings, aber auch er hatte Ende der 1970er-Jahre eine kurze Berühmtheitsphase. Und er hätte sicher weitere Erfolge errungen, hätte ihn nicht eine Reihe von Unfällen und Verletzungen gezwungen, den Motorradrennsport an den Nagel zu hängen und auf den Autorennsport umzusatteln. Den Fahrinstinkt und die Liebe zur Geschwindigkeit verdankt Valentino auf jeden Fall seinem Vater. Auch eine gewisse Exzentrik und die starke Persönlichkeit hat er von ihm geerbt. Graziano war früher Lehrer, hat viel für Literatur und insbesondere für Alberto Moravia übrig und kultiviert seit jeher einen eigenwilligen Look: die Haare im Nacken zusammengebunden, Hemd und Hosenträger. In jungen Jahren sorgte er zusammen mit seinen Freunden für Aufsehen, als er eine Henne an der Leine durch die Straßen von Pesaro spazieren führte. Noch heute macht er nichts so, wie es alle anderen machen. Wenn er zum Beispiel seinen Sohn bei einem Grand-Prix-Rennen besucht, bucht er kein Hotelzimmer, sondern schläft lieber auf einer Matratze im Kofferraum seines BMW-Kombi – und nicht nur wegen seiner notorischen Knauserigkeit. „Ich bin froh, dass ich diese Alternative habe und nicht so wohnen muss wie die Leute, die bei den Grand-Prix-Events arbeiten“, erläutert er. „Ich habe keine Lust, ein Wohnmobil zu fahren, aber im Hotel will ich auch nicht schlafen. Valentino hat meistens am Abend Zeit. In seinem Wohnmobil möchte ich, obwohl dort Platz genug wäre, aber erst recht nicht übernachten, weil er nie vor ein Uhr ins Bett geht.“ Das alles spricht eindeutig für den Kofferraum des BMW.
Graziano Rossi wird am 14. März 1954 als Sohn eines Möbeltischlers in Pesaro geboren. Seine Mutter ist Hausfrau. Die Motorradleidenschaft packt ihn wie viele junge Leute seiner Generation, die in der Gegend aufwachsen, in den Jugendjahren. Pesaro, wo Benelli seine Motorräder herstellt, hat viele Motorradrennfahrer hervorgebracht. „Pesaro war die Hauptstadt des Motorradsports“, resümiert Graziano. „Überall sonst in Italien träumten die Jungs von einer Fußballerkarriere. Wir dagegen wollten alle Rennfahrer werden.“ Graziano stillt seinen Wettkampfhunger mit Rennduellen, die er sich auf dem Weg zur Schule mit seinen Freunden liefert – „Bergab war ich der Schnellste“, beteuert er – und trifft sich ansonsten mit Stefania Palma, die einmal Valentino zur Welt bringen wird. Stefania, Jahrgang 1957, ist die Tochter einer Krankenschwester und eines Lastwagenfahrers, der genauso motorradbesessen ist wie sein späterer Schwiegersohn. Graziano und Stefania kennen sich von Kindesbeinen an. „Wir waren praktisch Nachbarn“, erinnert sich Stefania. Eine Freundschaft aus Kindertagen verbindet Graziano auch mit einem gewissen Valentino, ebenfalls Motorradnarr. Dank seiner bastlerischen Fähigkeiten ist er in der Lage, aus den unmöglichsten Teilen absolut abenteuerliche fahrbare Untersätze zu bauen. Mit vereinten Kräften schrauben Graziano und Valentino ihre erste Motocross-Maschine zusammen. Mit diesem Gefährt bestreitet Graziano seine ersten Rennen. Seinen Eltern ist bei dem Gedanken, dass ihr Sohn im Rennfahrertempo unterwegs ist, gar nicht wohl. Sobald sie alt genug sind, jobben die beiden Freunde in Kneipen und Bars des Küstenstädtchens, um ihre Leidenschaft zu finanzieren. Dann schlägt eines Tages das Unheil zu: Valentino ertrinkt in der Adria. Graziano ist am Boden zerstört. Er