1980 zieht Familie Rossi von Pesaro nach Tavullia in ein Landhaus am Ortsrand an der Straße nach Montecchio. In dem markanten Gebäude mit dem riesigen Hochspannungsmast im Garten lebt Graziano noch heute mit seiner zweiten Frau Lorena, der Mutter von Tochter Clara. Stefania arbeitet als Vermesserin in der Gemeindeverwaltung. Graziano treibt seine Karriere voran. Zwei Jahre zuvor haben sich die beiden das Jawort gegeben. „Er war damals rekonvaleszent“, erzählt Stefania, „und erholte sich von einem Sturz, bei dem er sich eine Gehirnerschütterung zugezogen hatte. Vielleicht war das der Grund, warum er heiraten wollte. Wir waren zu jung. Diese Ehe konnte nicht von Dauer sein.“ Zehn Jahre später lassen sich Graziano und Stefania scheiden. Auch sie heiratet ein zweites Mal und bringt ein weiteres Kind zur Welt: Luca Marini, Valentinos Halbbruder. Auch ihn packt das Motorradfieber. Luca ist Mitglied der VR46 Academy und Grand-Prix-Fahrer in der Moto2. Ende der 1970er-Jahre hat sich Graziano Rossi einen Namen gemacht und steigt nach drei Siegen in der 250-cm3-Klasse in die 500-cm3-Klasse auf. Fortan gehört er zum Team Suzuki von Roberto Gallina. Unglückseligerweise macht ein Autounfall im Januar 1980 den Schwung, den seine Karriere gerade aufnimmt, zunichte. Statt seiner brilliert Marco Lucchinelli auf der RGV 500, dem Motorrad des italienischen Teams. 1982 wechselt der Rennfahrer aus Tavullia ins Team von Giacomo Agostini. Er ist immer noch schnell, steht aber im Ruf, ein Hitzkopf zu sein. Die anderen Fahrer wissen das und kommen dem Italiener nicht zu nahe, weil der es fertigbringt, jeden Moment ohne Fremdeinwirkung zu Boden zu gehen. „Wir waren immer auf der Hut, wenn er vor uns fuhr“, berichtet Kenny Roberts, einer seiner Kontrahenten bei den 500er-Grand-Prix-Rennen. „Wenn man ihn überholen wollte, war man gut beraten, weit auszuholen und ihm genug Platz zu lassen.“ An diese Zeiten hat Valentino natürlich keine Erinnerung, aber die Loblieder auf den ungestümen Fahrstil seines Vaters hat er im Ohr: „Ihm war wohl zuzutrauen, bei einem Rennen mit mehreren Sekunden Vorsprung in Führung zu liegen und ein paar Kilometer vor dem Ziel ganz ohne fremdes Zutun eine Bauchlandung hinzulegen.“ Nach einem Sturz bei 230 km/h in Imola fällt Graziano ins Koma. Der Arzt Claudio Costa rettet ihm das Leben.
Nachdem er sich von diesem schlimmen Unfall erholt hat, beschließt Graziano, seine Haare wachsen zu lassen – erst als sein Sohn den Weltmeistertitel in der 500-cm3-Klasse holt, wird er seinen legendären Zopf abschneiden – und seine Rennfahrerkarriere zu beenden. Stefania, die seit Langem keine ruhige Minute mehr hat, ist sehr erleichtert. Ganz vom Motorradmilieu lassen will Rossi Senior allerdings nicht: Immer wieder besucht er seine Rennfahrerfreunde an der Strecke oder lädt sie zu ausgiebigen Familienabenden zu sich nach Hause ein. „Ich habe nie so einen Bekanntheitsgrad erreicht wie Valentino. Ich brauchte mich nicht zu verstecken und hatte keinen Fanclub“, erläutert Graziano, der bis heute seinen Hippie-Look pflegt und kaum Falten hat. „Ich hatte genau fünf Freunde.“ Grazianos Popularität gehört zwar recht bald der Vergangenheit an, aber der kleine Valentino genießt sie in vollen Zügen. Marco Lucchinelli, Franco Uncini, Virginio Ferrari, Loris Reggiani, Maurizio Vitali, Enzo Gianola und Luca Cadalora gehören für ihn zu den vertrauten Menschen seiner frühen Kindheit. Sein Vater fährt zwar keine Rennen mehr, macht sich aber weiterhin in seiner Werkstatt zu schaffen.
So kommt es, dass Valentino schon als Dreijähriger auf seinem ersten motorisierten Zweirad sitzt. Der Vater bemerkt dazu: „Man brauchte ihm nicht viel zu sagen. Er war sehr aufmerksam und hatte eine schnelle Auffassungsgabe. Den Rennfahrerinstinkt hatte er da bereits.“ Stefania ist zunächst alles andere als begeistert von der Idee, dass ihr kleiner Junge zum Motorradfahrer wird, merkt aber bald, dass Valentino eben nicht Graziano ist. „Ich hatte Angst“, erinnert sie sich, „aber dann sah ich, dass er das alles mit einer großen Selbstverständlichkeit anging. Wenn Graziano Rennen fuhr, machte ich mir mehr Sorgen. Deshalb war ich übrigens nie bei den Rennen dabei.“ Während die Mutter sich wünscht, dass ihr Sohn etwas Ordentliches lernt und kein Geschwindigkeitsfanatiker wird, zeigt der Vater seinem Sohn bei jeder sich bietenden Gelegenheit, wie man auf zwei oder vier Rädern Spaß hat. Diese Welt zieht Valentino schnell in ihren Bann. Er reißt, ohne mit der Wimper zu zucken, das Vorderrad seines Fahrrads in die Höhe und ahmt akrobatische Kunststücke nach, die er sich bei Rennen im Fernsehen abgeschaut hat. „Dabei habe ich dann auch meinen ersten heftigen Sturz gebaut“, erzählt er. „Das war 1984. Ich hatte kurz zuvor gesehen, wie Randy Mamola auf seiner 500er Honda – eigentlich eher neben ihr – eine unglaubliche Rodeo-Einlage ablieferte. Zu Hause wollte ich dann genau das Gleiche mit meinem BMX-Rad machen, und das ging übel aus.“ Irgendwann wird selbst Graziano etwas mulmig angesichts der halsbrecherischen Aktionen seines Sohnes. Er baut ihm ein Gokart, das deutlich mehr Stabilität bietet. Sich mit einem Rasenmähermotor zu begnügen, mit dem die Modelle, die man auf den Gokartbahnen der Umgebung mieten kann, normalerweise ausgerüstet sind, kommt allerdings nicht infrage. Graziano baut einen 100-cm3-Motor in ein verstärktes Chassis ein, und Valentino erlernt die Kunst des Driftens und Gegenlenkens. „Mit Loris Reggiani und ein paar anderen bretterten wir regelmäßig mit alten Opel Asconas oder Ford Escorts über unbefestigte Pisten“, erzählt Graziano. „So verrückt es klingt: Wir haben es nicht geschafft, so schnell zu fahren wie Valentino mit seinem Gokart.“ Auch Reggiani kann sich gut an diese Zeiten erinnern: „Valentino war immer mit von der Partie“, bestätigt der ehemalige italienische Motorradrennfahrer. „Er war ganz klar ein großes Talent – sowohl auf zwei als auch auf vier Rädern. Er hatte einen unglaublichen Gleichgewichtssinn und dazu die Mentalität eines Anführers. Er musste sich pausenlos in alles und jedes einmischen. Er hatte den Willen und auch die Kraft, sich zum Mittelpunkt einer Welt zu machen, die sich dann um ihn zu drehen hatte.“ Wenn sein Vater einmal nicht mit ihm zur Gokartbahn fährt oder das Wetter so schlecht ist, dass der Motor nicht anspringen würde, sitzt Valentino stundenlang gebannt vor dem Fernseher und führt sich Motorrad- oder Formel-1-Rennen zu Gemüte. Seine Helden heißen Kevin Schwantz, Ayrton Senna, Alain Prost, Loris Capirossi, Nigel Mansell, Doriano Romboni. „Mein Favorit war Kevin Schwantz“, verrät Vale. „Deshalb trug ich auch einen Kevin-Schwantz-Helm. Ich bewunderte seinen spektakulären Fahrstil und das optische Styling seiner Motorräder – vor allem in dem Jahr, in dem er mit der Pepsi-farbenen Suzuki antrat.“
Bei dieser „Ausbildung“ hat das schulische Lernen das Nachsehen. Das Problem ist nicht, dass der kleine Valentino den Anforderungen nicht gewachsen wäre. „Er ging in Tavullia zur Grundschule, aber das Lernen machte ihm keinen großen Spaß“, berichtet Stefania, die es gern gesehen hätte, wenn ihr Sohn Ingenieur geworden wäre. „Er war aber begabt und hatte ein hervorragendes Gedächtnis. Um ihn zum Arbeiten zu bewegen, las ich ihm aus seinen Büchern vor, während er es sich auf dem Sofa oder Bett gemütlich machte. Auch später auf der Oberschule war deutlich zu spüren, dass er sich für die Schule nicht besonders interessierte. Er machte seine Hausaufgaben, aber keinen Strich mehr.“ Für Valentino ist die Schule vor allem der Ort, an dem er mit seinen Kumpels zusammen ist, während sein Zuhause für den Traum steht, den die Freunde seines Vaters verkörpern. Getrieben von seiner angeborenen Neugier, folgt er ihnen auf Schritt und Tritt. Bei jeder Gelegenheit fragt er ihnen Löcher in den Bauch. „Er war erst vier oder fünf Jahre alt“, erinnert sich Graziano. „Aber er gab niemals Ruhe. Das ging so weit, dass sich Loris oder die anderen unauffällig verdrückten, sobald er aufkreuzte.“ In der Schule ist Valentino auf andere Weise in seinem Element – allerdings weniger im Klassenraum als vielmehr auf dem Pausenhof. Vale hat bereits damals einen Clan um sich geschart, der praktisch unverändert bis heute existiert. Der ehemalige Bürgermeister von Tavullia, Bruno Del Moro, kennt die Jungs gut, weil er lange Zeit Dorfschullehrer war. „Als sich