Forschung in der Filterblase. Urs Hafner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Urs Hafner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039199648
Скачать книгу
zu wenig über Naturwissenschaften und Technik Bescheid wüssten, seien sie gleichgültig oder feindlich eingestellt, dabei wären sie doch im Grunde sehr wohl wissbegierig. Es erginge sowohl der Nation als auch den Individuen besser, wenn die Öffentlichkeit ein vertieftes Verständnis von Wissenschaft hätte. Daher seien die Wissenschaften und namentlich die Statistik besser im Schulunterricht zu verankern, die Lehrer gründlicher auszubilden und die Bibliotheken besser zu finanzieren, und es brauche mehr wissenschaftliche Vorträge für interessierte Personen und vor allem für die Kinder. Die Royal Society plädierte indes nicht für ein schönfärberisches Wissenschaftsverständnis – und schon gar nicht einfach für «Fact News»: «Understanding includes not just the facts of science, but also the method and its limitations as well as an appreciation of the practical and social implications.»24 Die Grenzen der Wissenschaft aufzuzeigen heisst zu sagen, was sie dank welchen Methoden kann, aber auch, was sie nicht kann.

      Der «Bodmer Report» nahm die Medien ins Visier: Sie müssten mehr über die Wissenschaften berichten. Einfach sei das jedoch nicht: «The scientific community and the media work in very different ways and are, on the whole, often ignorant of each others’ procedures and constraints.»25 Um dies zu ändern, schlug die Royal Society vor, dass die Chefredaktoren ihre Journalisten ermuntern sollten, mehr wissenschaftliche Themen in ihre Berichte einzubauen. Und zweitens müssten die Wissenschaftler lernen, mit Journalisten zu kommunizieren. Sie dürften diese Aufgabe nicht delegieren. Die Royal Society sprach Klartext – so klar, ist zu vermuten, wie ein Wissenschaftler zu einem Journalisten sprechen müsste: «In the past, professional scientists have mostly delegated to others the task of communicating science to the public. Within the scientific community there is still often a stigma associated with being involved in the media. Such attitudes are not appropriate. Given the importance of public understanding of science and the extent to which scientists must be democratically accountable to those who support their training and research through public taxation, it is clearly a part of each scientist’s professional responsibility to promote the public understanding of science.»26 Jede Doktorandin und jeder Doktorand, hält der «Bodmer Report» fest, müsse die wesentlichen Punkte ihrer respektive seiner Arbeit einem breiten Publikum erklären können. Dieser Punkt ist hervorzuheben: Der Bericht kommt zwar zum Schluss, dass alle wissenschaftlichen Institutionen gute PR-Organisationen haben sollten, nimmt jedoch den einzelnen Wissenschaftler in die Pflicht. Die Aufgabe der Wissenschaftskommunikation obliegt ihm. Authentisch erklärt er der Öffentlichkeit, was Sache ist.

      Das Konzept des Public Understanding of Science, das von der Royal Society entworfen wurde, prägte mit seiner elitären Haltung die frühe Wissenschaftskommunikation: Wissende erklärten Unwissenden die Welt. Davon hat sich die Wissenschaftskommunikation im neuen Jahrtausend verabschiedet. Die Schweizer Stiftung Science et Cité (SeC) setzte schon 1998, im Jahr ihrer Gründung, auf den Dialog, ihr deutsches Pendant, die 1999 ins Leben gerufene Organisation Wissenschaft im Dialog, trägt diesen sogar im Namen, und die Unesco propagierte ebenfalls noch im alten Jahrhundert die «Science for all»: Wissenschaft stehe nicht nur im Dienst aller, sondern könne durch alle realisiert werden.

      Heute ist nicht nur vom gleichberechtigten Dialog und von Partizipation die Rede, sondern auch von Citizen Science, also von bürgergestützter Wissenschaft. Der Begriff ist 1996 von einem US-amerikanischen Ornithologen geprägt worden. Er bezeichnet seither die von Forschungsinstitutionen gestarteten Initiativen, die Laiinnen und Laien miteinbeziehen, indem sie sie ermuntern, Daten zu sammeln, die der Forschung zugutekommen – Vögel und Pflanzen zu zählen, das Verhalten des eigenen Körpers aufzuzeichnen, Fotos zu datieren. Das haben die Mitglieder der naturforschenden Gesellschaften im 19. Jahrhundert auch schon gemacht. Citizen Science wird in mehreren Disziplinen meist über Webplattformen praktiziert: in Biologie, in Umweltwissenschaften, in Astrophysik, im Gesundheitswesen, in Geografie, aber auch in Geschichte und Archivwissenschaften. Wenn Forschungsinstitutionen Citizen Science betreiben, werden sie dabei von ihrer Wissenschaftskommunikation unterstützt. Für diese ist die Bürgerwissenschaft ein geeignetes Vehikel, um ihre Ziele zu erreichen, also mit der Bevölkerung in Kontakt zu treten und diese davon zu überzeugen, dass die Wissenschaften sinnvoll seien.

      Doch Citizen Science ist nicht unproblematisch, wie auch der Dialog und die Partizipation es nicht sind: Die Begriffe unterstellen, dass Wissenschaft und Forschung offene Unterfangen sind, zu denen alle etwas zu sagen haben und an denen alle mitmachen können, wenn sie denn wollen. Natürlich kann ich als Bürger den Archäologen fragen – falls ich ihn irgendwo antreffe –, welchen Nutzen seine Forschung habe, und natürlich kann ich der Teilchenphysikerin zu verstehen geben, dass ich das Cern, die Europäische Organisation für Kernforschung, zu teuer fände. Beide werden versuchen, mich vom Sinn ihres Tuns zu überzeugen und von der hohen Relevanz ihrer Erkenntnisse. Diesen Wortwechsel einen Dialog auf Augenhöhe zu nennen, wäre indes reichlich übertrieben. Genauso übertrieben ist es, einen älteren Mann, der die auf einer Luftaufnahme abgebildete unbekannte Ortschaft bestimmen kann, weil er dort aufgewachsen ist und sich an ein markantes Gebäude erinnert, das nicht mehr steht, einen Wissenschaftler zu nennen, auch wenn seine Angabe für das Archiv, das im Besitz des Bildes ist, hilfreich ist und vielleicht sogar eine Doktorandin der Geschichte weiterbringt. Das Sammeln von Daten gehört zur Wissenschaft, aber nicht zum Kern der Forschung. Citizen Science entspricht mehr der Wunschvorstellung der Forschungsinstitutionen als dem tatsächlichen Engagement von Nichtwissenschaftlern im Forschungsfeld, zumal die Sammeltätigkeiten selten zu wissenschaftlichen Publikationen führen. In ihrer soziometrischen Twitter- und LinkedIn-Analyse kommt die Sozialwissenschaftlerin Elise Tancoigne von der Universität Genf zum Schluss, dass die Mehrheit der Personen, die von Citizen Science reden, selbst Wissenschaftlerinnen sind. Citizen Science wird vor allem von Frauen propagiert, die sich als «Citizen-Science-Koordinatorinnen» bezeichnen, und bedeutet in diesem Rahmen meist das Sammeln von Daten für den Umweltschutz.27

      Die deutsche Stiftung Wissenschaft im Dialog hat 2016 die «Leitlinien der guten Wissenschafts-PR» aufgestellt.28 Sie umfassen eine ganze Menge, nämlich dass die gute Wissenschaftskommunikation das Verständnis für die Arbeitsweise der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stärkt; die Ängste und Vorbehalte der Bürgerinnen und Bürger in die Wissenschaften trägt; aus der «Fülle der Informationen» die für die Gesellschaften relevanten herausarbeitet; «faktentreu» vorgeht; Grenzen, Interessen und Finanzen der Forschung transparent macht; Informationen zielgruppengerecht aufbereitet; «wertegeleitet» vorgeht. Die Werte sind unter anderen folgende: Nutzen für die Gesellschaft, Transparenz, Offenheit der Wissenschaft für den Dialog, Selbstkritik, Unabhängigkeit, die Prinzipien der guten wissenschaftlichen Praxis. Die «Leitlinien» sind ein irritierendes Papier. Sie wollen in einer medial sich im Umbruch befindenden Realität – die Stichworte seien: soziale Netzwerke, wachsende Wissenschafts-PR, boulevardisierte Wissenschaftskommunikation – Orientierung und Gegensteuer geben. Das Unterfangen ist gut gemeint, aber vor allem symptomatisch. Denn wenn eine Branche sich explizit Werte gibt, an denen man sich orientieren soll, ist zu vermuten, dass sie in eine Krise geraten ist. Die «gute Praxis» ergibt sich in der Regel aus der Berufspraxis selbst, in die mehr oder weniger vernünftige Menschen eingeführt werden. Wer jahrelang in der Kommunikationsabteilung einer Universität tätig war und plötzlich vorgesetzt bekommt, er solle transparent, offen und selbstkritisch arbeiten, wird irritiert sein, denn implizit wird ihm unterstellt, dass er bisher intransparent, verschlossen und beratungsresistent gewirkt habe. Und wer neu in dieses Berufsfeld eintritt, wird sich fragen, ob man denn hier nicht faktentreu gearbeitet habe?

      Die «Leitlinien» sind ein Symptom der von der Politik gesteuerten Autonomisierung und Verbetrieblichung der Hochschulen. Sie bedeutet für die Wissenschaftskommunikation, dass sie stärker als bisher der Strategie der Hochschulen folgen muss. Sie ist eben nicht unabhängig, sondern steht im Dienst einer Hochschule, die im verschärften internationalen Bildungswettbewerb um Drittmittel, angesehene Professoren, wohlhabende Studierende und bessere Positionen in Rankings kämpft. Hilflos sind die Ausführungen, die sich auf die Wissenschaften beziehen; eine, die mit Leib und Seele Forscherin ist, würde auf sie mit Unverständnis reagieren, ist zu vermuten. Soll sie sich etwa von den «Ängsten» eines uniformierten Dilettanten von ihren Experimenten abhalten lassen? Damit würde