Die Frage nach theologischen Inhalten und deren konfessionsspezifischen Auswirkungen auf soziale und politische Strukturen sollten nicht nur Kirchenhistoriker grundsätzlich stellen, doch sind sie hier gegenüber kulturwissenschaftlich arbeitenden Profanhistorikern im Vorteil. Friedrich Wilhelm Graf ist zuzustimmen, wenn er formuliert, dass die historischen „analytischen Außenperspektiven auf religiöse Mentalitäten und der gelebte Glaube von Individuen niemals kongruent“ seien. „Der Glaube ist für einen frommen Menschen etwas qualitativ anderes als eine Funktion von x oder ein Nutzen für y.“ Konfessionsspezifische Frömmigkeitsmuster und somit auch Rolle und Funktion der Geistlichkeit kann man in der Tat „ohne theologische Deutungskompetenz“ nicht vollständig analysieren.13
Es ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich, den Forschungsstand zum Thema „Katholischer Klerus in Europa“ auch nur einigermaßen adäquat darzustellen und aufzuarbeiten. Allein die deutschsprachigen Publikationen zu diesem Thema sind Legion. Sprachliche Barrieren existieren vor allem, aber nicht nur mit Blick auf die slawischsprachigen, ungarischen und griechischen Publikationen. Die folgenden Ausführungen beschränken sich deshalb darauf, exemplarisch zu skizzieren, wie sich das Priesteramt in der katholischen Kirche entwickelte und dabei einige Themenfelder und Fragehorizonte vorzustellen, die sich für einen Vergleich über Epochen und Generationen, Staaten sowie Religionen und Konfessionen hinweg besonders anbieten. Zu berücksichtigen sind neben den drei Hauptvergleichsebenen Religion, Raum und Zeit auch weitere Differenzen wie die „cleavages“ zwischen Stadt und Land, Zentrum und Peripherie, verschiedenen sozialen Schichten sowie genderspezifische Unterschiede.14
Selbst- und Fremdbilder religiöser Eliten
Ausgangsbasis für den internationalen Vergleich sollte die Frage nach dem Selbstbild und der Fremdwahrnehmung religiöser Eliten sein, wobei zwischen normativen Vorgaben und Beschreibungen des Ist-Zustandes zu unterscheiden ist. Heuristisch wertvoll können neben genuin historischen und theologischen auch sozial- und kulturwissenschaftliche Begrifflichkeiten sein. So ist zu prüfen, wieweit Ergebnisse der Elitenforschung15 auch auf die Inhaber religiöser Ämter übertragen werden können. Anzustreben ist letztlich eine „europäische Religionsgeschichte als Geschichte religiöser Verflechtung“,16 die über den Vergleich hinausreicht, indem sie die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Religionen und weiteren gesellschaftlichen Feldern an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten zu erfassen versucht.
In der katholischen Kirche gibt es zwei Stände, die streng voneinander geschieden sind: die Kleriker und die Laien. Nach spätmittelalterlichem Verständnis brauchte der Priester die Weihe, „um gewisse Benefizien erhalten zu können. Sie war viel weniger Amt und Würde als Mittel zu diesem Zweck.“17 Der Klerus war wiederum zweigeteilt in Welt- und Ordensgeistliche, die nicht selten miteinander vor Ort konkurrierten. Während die höheren Stellen (Bischofssitze, Dom- und Stiftskapitel) meist dem Adel vorbehalten waren, umfasste der clerus secundarius ein breit abgestuftes Spektrum vom geistlichen Proletarier, der sich mit einer Altarstiftung kaum über Wasser halten konnte, über den wohlbestallten Pfarrherrn auf einer reichen Pfründe bis zum angesehenen Stiftsherrn und Universitätsprofessor.18 Die Gläubigen erwarteten aber von ihren Priestern durchaus, eine vita apostolica zu führen, Reinheitsgebote zu achten und sich selbst zu heiligen – vor allem auch, um die Fähigkeit zur Sakramentenspendung sicherzustellen. Priester wurden als Mittler zwischen Gott und den Menschen betrachtet.19
Im „Herbst des Mittelalters“20 geriet der Klerus nicht selten ins Kreuzfeuer der Kritik: Er war schlecht ausgebildet – meistens mussten zwei Jahre als „Pfarr-Azubi“ reichen – und daher kaum in der Lage und zumeist auch nicht interessiert, den neuen Erwartungen des aufkommenden Bürgertums an Seelsorge und Verkündigung gerecht zu werden. Folgt man Hubert Jedin, so lässt sich für das Spätmittelalter „kein spezifisches Priesterideal“ feststellen, was an der „Ausbildung des Benefizialwesens“ lag: „Die Tätigkeit des Priesters wurde durch das benefizium bestimmt, das er innehatte, nicht durch ein allen gemeinsamen munus sacerdotale, ja sogar die Erfüllung der mit dem Benefizium verbundenen Amtspflichten war ablösbar und konnte einem Stellvertreter übertragen werden.“ Eine „notwendige Verbindung zwischen Priestertum und pastoraler Verpflichtung“ existierte somit nicht.21
Maßgeblich für den katholischen Klerus wurde die Krise, in die er im Übergang zur Neuzeit durch die Angriffe der Reformatoren geriet. Die Kontroverstheologie, das Konzil von Trient und das Kirchenrecht waren gezwungen, darauf mit einem neuen Priesterbild zu reagieren.22
Die reformatorische Kritik richtete sich nicht nur gegen die schlechte Ausbildung und die Vernachlässigung der seelsorgerlichen Aufgaben durch den spätmittelalterlichen Klerus, sie setzte viel grundsätzlicher an. So bestritt Luther die Existenz eines eigenen geistlichen, vom weltlichen getrennten Standes und lehnte das Sakrament der Weihe ab, das die Mitgliedschaft in diesem Ordo konstituierte: „Dan was ausz der tauff krochen ist, das mag sich rumen, das es schon priester, Bischoff und Bapst geweyhet sei.“23 So propagierte Luther das allgemeine Priestertum aller Getauften. Priester waren für ihn nur „ministri ex nobis electi, qui nostro nomine omnia faciunt, et sacerdotium aliud nihil est quam ministerium“, wie er bereits 1520 in seiner Schrift „De captivitate Babylonica“ formulierte: gewählte Amtsträger, die im Auftrag der Gläubigen handelten.24 Wenige Jahre später entzog der Reformator mit theologischen Argumenten dem besonderen Weihepriestertum seine bislang wichtigste Existenzberechtigung. In der Schrift „De abroganda missa privata“ sah er es als durch den Satan selbst gestiftet an: Sein eigentlicher Daseinsgrund, die Darbringung des Messopfers, entfalle, weil die Messe kein Opfer, sondern die Erneuerung des