Die Wurzeln für diese kenntnisreiche Vertrautheit mit der kirchlichen Zeitgeschichte liegen bereits in seiner Herkunft begründet. 1948 in Thalwenden, einem Dorf im katholischen Eichsfeld, geboren, weist die Herkunft seiner Familie jedoch auf das Sudetenland als Heimat zurück, die man nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verlassen musste. Der Familiengeschichte nach durch Flucht und Vertreibung geprägt und der eigenen Lebensgeschichte nach durch das Leben im katholischen Eichsfeld bestimmt, haben in der Person von Professor Pilvousek die beiden sozialen Erscheinungsformen des Katholizismus in Mittel-und Ostdeutschland eine innere Verbindung gefunden. Die eigene Lebenserfahrung schärfte sein historisches Bewusstsein für die einzigartige Minderheitensituation des ostdeutschen Katholizismus, der in seiner Mehrheit in weit verstreuten kleinen Diasporagemeinden und nur in wenigen größeren katholischen Enklaven lebt.
Nach der Schulbildung im Eichsfeld hat er in Halle die altsprachliche Zurüstung für das Theologiestudium empfangen, um 1970-1975 am Philosophisch-Theologischen Studium Erfurt sein Theologiestudium zu absolvieren. 1977 empfing er die Priesterweihe in Erfurt. Nach wenigen Jahren in der seelsorgerischen Praxis wurde er 1980 zum Assistenten am Philosophisch-Theologischen Studium Erfurt berufen. Die Forschungen zum Lizenziat (1983) und Doktorat der Theologie schloss er 1985 mit der Dissertation „Die Prälaten des Kollegiatsstifts St. Marien in Erfurt von 1400-1555“ ab. Mit diesen Studien zum Spätmittelalter und zur Zeit der Reformation gewann Josef Pilvousek sein tiefes Verständnis der komplexen Zusammenhänge, die kirchliches wie weltliches Leben im ausgehenden Mittelalter prägten und letztlich in Martin Luther zur Reformation führten.
Seit 1988 mit der Verwaltung des Lehrstuhls für Kirchengeschichte beauftragt, wurde Josef Pilvousek im September 1994 zum Professor für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit berufen. Kollege Pilvousek konnte als theologischer Lehrer aus der Mitte seiner Forschungen heraus den Studierenden ein ausgewogenes Verständnis der Reformation und der sich daraus ergebenden Konfessionalisierung des christlichen Glaubens vermitteln. Seine Studien zum Spätmittelalter und zur Reformationszeit schärften aber auch den Blick für die kirchliche Zeitgeschichte in Mittel- und Ostdeutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die ein konfessionelles Miteinander unter den Bedingungen einer extremen Diasporasituation mit sich brachte. So lautet die entscheidende Frage für die Forschungen von Josef Pilvousek bis heute, wie sich in dieser Zeit auf dem Gebiet der ehemaligen DDR unter den Bedingungen einer vorwiegend protestantischen Tradition und unter der Vorherrschaft einer kommunistisch-atheistischen Ideologie katholisches Leben entwickeln konnte. Literarischen Niederschlag haben seine Forschungen in zahlreichen Artikeln gefunden, in denen Josef Pilvousek den Verwerfungen des Krieges und der Nachkriegszeit nachgegangen ist, um unter diesen Bedingungen das kirchliche Handeln herauszuarbeiten, dass trotz des Migrationsschicksals der Katholiken dennoch zu stabilen Gemeinden und Jurisdiktionsbezirken führte, aus denen die heutigen Bistümer Mittel- und Ostdeutschlands hervorgegangen sind. Seine Forschungsergebnisse gewähren tiefen Einblick in die besonderen Umstände, unter denen die katholische Kirche in der DDR ihre Identität bewahren musste. Zentrale Bedeutung kommt dabei sowohl dem Aufsatz „Die Katholische Kirche und die Anfänge einer historischen Aufarbeitung 1990-1996“ aus dem Jahr 2009 wie auch der zweibändigen Quellenedition „Kirchliches Leben im totalitären Staat. Seelsorge in der SBZ/DDR 1945 bis 1976 / 1977 bis 1989“ von 1994 sowie 1998 zu. Ihre besondere Charakteristik haben diese Entwicklungen von den kirchlichen Akteuren, vorzugsweise den Bischöfen, in dieser Zeit empfangen. So war es nur folgerichtig, dass Josef Pilvousek in dem von Erwin Gatz herausgegebenen Sammelband „Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1945-2002“ (2002) die Biografien der ostdeutschen Bischöfe angefangen von Konrad Graf von Preysing bis hin zu Joachim Reinelt und Joachim Wanke vorgestellt hat. Das beachtliche Ergebnis dieser Studien und Arbeiten ist der innere Einblick in einen über sechs Jahrzehnte hin gewachsenen, trotz zahlreicher unterschiedlicher Bedingungen und innerer Spannungen doch weit gehend einheitlichen pastoralen Raum der katholischen Kirche in Ostdeutschland.
Durch seine Forschungen ist Josef Pilvousek zu der festen Überzeugung gekommen, dass sich das allmähliche Zusammenwachsen der Katholiken Ostdeutschlands mehreren stabilisierenden Faktoren verdankt. Als einen wichtigen Faktor konnte Josef Pilvousek das Wirken des Philosophisch-Theologischen Studiums Erfurt identifizieren. 1952 gegründet, hat dieser einzige ostdeutsche Studienort für Katholische Theologie bis zur Wiedererlangung der deutschen Einheit über 900 Priester hervorgebracht, aus deren Reihen wiederum eine stattliche Zahl von Bischöfen hervorging. Andere Absolventen dieser Zeit waren in Ordensgemeinschaften, der Caritas oder an anderen Stellen in Kirche und Gesellschaft tätig geworden. Die einheitliche Prägung durch ihr gemeinsames Studium führte zum gemeinsamen Handeln an unterschiedlichsten Orten. So konnte selbst noch die extreme Diaspora zu einem stabilisierenden Faktor katholischen Glaubens werden. Die Untersuchungen Josef Pilvouseks lassen keinen Zweifel daran, dass sich diese bemerkenswerte Wirkung des Philosophisch-Theologischen Studiums neben dem einzigartig historisch geprägten Umfeld des Erfurter Priesterseminars vor allem dem Wirken des Lehrkörpers der Hochschule verdankt. Josef Pilvousek hat diese Erkenntnisse schriftlich niedergelegt in der umfassenden Studie „Theologische Ausbildung und gesellschaftliche Umbrüche. 50 Jahre Katholische Theologische Hochschule und Priesterausbildung in Erfurt“ (2002) und dem anlässlich der 60-Jahr-Feier katholischer Theologie in Erfurt im Jahr 2012 in einem Sonderheft der „Theologie der Gegenwart“ veröffentlichten Aufsatz „Die Integration der Theologischen Fakultät in die Universität Erfurt“.
Die beeindruckenden Forschungsergebnisse wären nicht möglich gewesen ohne die Fleißarbeit des Historikers. Josef Pilvousek ist Vorsitzender des Beirates des Archivwesens im Bistum Erfurt, wurde von den Bischöfen in Ostdeutschland zum Beauftragten für die Aufarbeitung der Kirchengeschichte in der SBZ/DDR ernannt und hat seit 1995 die Leitung des Seminars für Zeitgeschichte – heute Forschungsstelle für kirchliche Zeitgeschichte Erfurt – an der Katholisch-Theologischen Fakultät Erfurt übernommen. Seit 1991 Mitglied des Ausschusses der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum gehörte er 2004-2011 dem Vorstand dieser Gesellschaft an. Er ist Mitherausgeber der Veröffentlichungen zur Geschichte der mitteldeutschen Kirchenprovinz, Mitglied der evangelischen Forschungsakademie zu Berlin, Mitglied der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt, gehört dem Beirat der Görres-Gesellschaft an und war 2006-2010 Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Kirchenhistoriker des deutschen Sprachraums. Dabei ist ausdrücklich hervorzuheben, dass Josef Pilvousek sich neben seinen historisch-theologischen Forschungen, seinen Verpflichtungen in zahlreichen Vereinen und Forschungsverbünden und seiner ausgedehnten Vortragstätigkeit stets auch lebendiges Interesse an der Seelsorge bewahrt hat.
Mit dem Eintritt in den Ruhestand im September 2013 wird Professor Josef Pilvousek seine wissenschaftliche Arbeit nicht verlieren, wohl aber wird sich ihre Gestalt verändern. Ihm ist zu wünschen, dass sich die Befreiung von den Verpflichtungen der Lehre und der akademischen Selbstverwaltung in der Aufnahme und Erfüllung weiterer größerer Forschungsvorhaben auswirken wird. Das Kollegium der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt wünscht ihrem scheidenden Kollegen und Kirchenhistoriker Josef Pilvousek Gesundheit und unverändert hohe Schaffenskraft sowie ein lebendiges Interesse an der weiteren Geschichte der katholischen Kirche in Mittel-und Ostdeutschland.
Prof. Dr. Michael Gabel
Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät
Vorwort der Herausgeber
Kirche verstehbar machen – dies war und ist das zentrale Anliegen, dem sich Josef Pilvousek in über 30 Jahren Lehrtätigkeit am Philosophisch-Theologischen Studium Erfurt und an der Universität Erfurt verpflichtet fühlte. Seine anregende und inspirierende Art, Geschichte zu betreiben und zu vermitteln, hat zwei Generationen von Studierenden geprägt; sie sind ihm in Dankbarkeit verbunden. Mit dieser Festschrift, die unserem akademischen Lehrer, Prof. Dr. Josef Pilvousek, zum 65. Geburtstag gewidmet ist, möchten wir diese Verbundenheit auch im Namen seiner Kollegen zum Ausdruck bringen.
Josef Pilvousek ist nicht nur als wichtigster Erforscher der Geschichte der katholischen Kirche in der SBZ/DDR bekannt, sondern wird als Kenner der Reformations- und mitteldeutschen Regionalgeschichte geschätzt. Die Beiträge dieser Festschrift