An diesem Punkt wird der besondere Charme der longue durée eines Vergleichs deutlich, die es beispielsweise auch erlaubt, Nations- und Konfessionsbildung zusammen in den Blick zu nehmen: Strukturell stehen ja ganz ähnliche Vorgänge zur Diskussion: Hier die Erfindung der Nation und ihre Durchsetzung – dort die Erfindung von Konfessionen und ihre Verkündigung bis in das letzte Dorf. Es wäre zu prüfen, ob und, wenn ja, unter welchen Umständen sich religiöse Funktionsträger ebenso für die Nation in Dienst nehmen ließen wie für ihre jeweilige Konfession.
Das Thema Nation spielte bereits in der Frühen Neuzeit eine wichtige Rolle.99 Sahen Protestanten die ideale deutsche Nation primär durch evangelische Traditionen bestimmt – Luthers Bibelübersetzung galt als Urdatum der deutschen Kulturnation –, so entwarfen Katholiken eigene Gründungsmythen und Kriterien guten Deutsch-Seins – etwa durch die Verehrung des Germanenmissionars Bonifatius. Gerade das führte aber im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert vonseiten der Protestanten zum Vorwurf, die Katholiken seien undeutsch, weil sie über Bonifatius versucht hätten, Deutschland der päpstlichen Hegemonie zu unterstellen.100
Vom Summepiskopat des evangelischen Landesherren, der zugleich als oberster Bischof seiner Landeskirche fungierte, zum Oberhaupt eines Nationalstaats von Gottes Gnaden war der Weg in der Tat nicht weit. Wo eine eigenständige Kirchenbehörde wie ein Bischöfliches Ordinariat fehlte, wo der Pfarrer immer schon als Landesbeamter fungierte, war der Übergang zum Agenten eines kulturprotestantisch begründeten Nationalstaats fließend. Für das deutsche Kaiserreich ist evident, dass vor allem evangelische Pfarrer religiöse Symbolbestände benutzten, um den Nationalstaat als gottgewollt auszugeben. Eine Letzthingabe an und eine Totalidentifikation mit dem Nationalstaat brauchten in der Tat religiöse Qualitäten, die zumindest in der Gründungsphase durch Pfarrer vermittelt werden konnten.
Hier wäre genau zu untersuchen, welche Aufgaben an die religiösen Funktionsträger herangetragen wurden, wie sich diese mit ihrem Selbstverständnis vertrugen und welche Rolle sie in Dorf, Stadt, Region und Nation tatsächlich spielten. Während das Thema „evangelischer Klerus und Nation“ bestens erforscht ist, mussten Heinz-Gerhard Haupt und Dieter Langewiesche in ihrem großen Sammelband „Nation und Religion in der deutschen Geschichte“ konstatieren, dass „ein Beitrag zum Verhältnis katholischer Klerus und Nation nicht zu gewinnen war“.101 Bei der Behebung dieses Forschungsdesiderats ist einerseits die Frage nach der grundsätzlichen „Nationsfähigkeit“ eines zu einer internationalen Institution gehörenden Amtsträgers zu stellen und andererseits zu differenzieren, ob die dem katholischen Pfarrer gegenüberstehende Nation ebenfalls katholisch, durch eine andere Religionsgemeinschaft geprägt oder religionsfeindlich eingestellt war. Der Katholizismus konnte nationale Identitäten gegen fremde Besatzungsmächte schützen wie in Irland102 oder gegen ideologische Besatzer aus dem eigenen Volk wie in Polen. In Belgien verbündeten sich Katholizismus und Liberalismus, um einen eigenen Staat aus den protestantisch dominierten Niederlanden herauszulösen. In Frankreich stritt man um die Rolle der Kirche zwischen den Alternativen „Thron und Altar“ oder „Katholizismus und Freiheit“. Und in all diesen Auseinandersetzungen waren katholische Pfarrer Hauptagenten.
Auch in Deutschland gerieten der neuentstandene, protestantisch dominierte deutsche Nationalstaat und seine katholische Minderheit mit dem Kulturkampf zunächst in einen heftigen Konflikt. Katholizismus und Moderne, katholische Kirche und moderner Nationalstaat, Glaubensbekenntnis und Grundrechte waren für inkompatibel erklärt worden. Der neue Nationalstaat fürchtete die „katholische Internationale“ und ihre Agenten.103 Deshalb hatten zahlreiche Kulturkampfgesetze vor allem die katholischen Pfarrer im Blick, wie etwa der Kanzelparagraph, das Brotkorbgesetz, die Anzeigepflicht und die Gesetze über wissenschaftliche Vorbildung der Geistlichen zeigen. Die starke Bekämpfung durch den protestantischen Staat trieb die Katholiken noch mehr in die Defensive und erschwerte eine Integration in das neue deutsche Kaiserreich über Jahrzehnte hinweg. Auf katholischer Seite kam es zur Bildung einer Gegengesellschaft; der diffamierte Pfarrer konnte seine Stellung als „Milieumanager“ aus der Defensive heraus stärken und sorgte oft dafür, dass Katholiken im Ghetto blieben. Erst der Ausbruch des Ersten Weltkriegs gegen den „Erzfeind“ Frankreich sorgte dafür, dass die Katholiken im Kaiserreich ankamen und die Zugehörigkeit zur deutschen Nation über die mit dem französischen Gegner gemeinsame Zugehörigkeit zur katholischen Kirche stellten.104 Grundsätzlich stand der deutsche Kulturkampf allerdings in einem internationalen Kontext,105 vergleichbare Auseinandersetzungen gab es auch außerhalb Europas, etwa in Mexiko, wobei sich oft religiöse, soziale, politische, ökonomische und allgemein kulturelle Konflikte überlagerten.106 Zu prüfen wäre insbesondere, ob auch Vertreter anderer Konfessionen mit dem Nationalstaat in Konflikt gerieten und was die Gründe dafür waren.
Anders strukturiert waren Konflikte, in denen religiöse Eliten zur Partei in nationalen Auseinandersetzungen wurden.107 Regionen wie das Baskenland, Elsass-Lothringen und Tirol zogen ihre eigene Identität nicht zuletzt aus sprachlichen Differenzen, besondere Bedeutung kommt dabei dem Begriff der „Heimat“ zu, wie Forschungen zu Südtirol gezeigt haben.108 Nationale und regionale Identitäten bildeten sich aber auch über andere „cleavages“ heraus: den Gegensatz von Stadt und Land, von Zentrum und Peripherie – und zwischen verschiedenen Religionen und Konfessionen oder verschiedenen Fraktionen innerhalb dieser Glaubensgemeinschaften.
Ein gutes Beispiel stellt der von katholischen Pfarrern propagierte baskische Nationalismus dar.109 Hier standen auf beiden Seiten der Front Katholiken, alle drei involvierten Gruppen wollten sich im Katholisch-Sein nicht von den anderen übertreffen lassen: weder die Basken noch die Spanier noch Rom. Den Ausgangspunkt der Auseinandersetzung bildete ein Ritenstreit Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Baskische Pfarrer kämpften gegen ihre von Zentralspanien eingesetzten Bischöfe für baskische Taufnamen der Kinder und damit für eine eigene nationale Identität. Gleichzeitig wurde von baskischen Katholiken eine neue Gesellschaftsutopie entworfen, das katholische „Euskadi“ als ideale Gesellschaft, als Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden, während man das ebenfalls katholische Spanien, welches das Baskenland unterdrückte, als Reich des Teufels ansah. Die ETA wurde am Gedenktag des heiligen Ignatius in einem Jesuitenkolleg gegründet, während andererseits Franco den Basken Ignatius zum Spanier machen wollte.
Interessant dürfte auch ein Blick auf die Reaktionen katholischer und evangelischer Pfarrer in Elsass-Lothringen auf den mehrfachen