Toter Dekan - guter Dekan. Georg Langenhorst. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Georg Langenhorst
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783429062842
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hatte er sich damals gedacht. Und so war es keine große Überraschung, dass Chef und Mitarbeiter sehr gut miteinander auskamen, obwohl oder vielleicht weil sie Beruf und Privatleben strikt voneinander trennten.

      Nun schaute Kellert von den vielen Blättern auf, die vor ihm auf seinem Schreibtisch lagen, scheinbar ungeordnet. Dass es eine ganz persönliche Ordnung im Chaos gab, wusste Thiele inzwischen. „Also so eine Fakultät an der Uni ist unglaublich kompliziert. Bis man da mal klarkriegt, wer welche Aufgabe hat, wer wofür zuständig ist, wie sich die Kompetenzen verteilen: furchtbar. Und dann noch Theologie! Damit habe ich nun wirklich nichts zu tun. Klar, unsere Kinder sind getauft und zur Erstkommunion und Firmung gegangen und so, weißt du ja!“

      ‚Nö, wusste ich nicht‘, dachte Thiele, ‚ich wusste ja nicht mal, dass du katholisch bist.‘ Kellert fuhr fort: „Als Kind war ich sogar einige Zeit Messdiener, kannst du dir das vorstellen? Meine Güte, das ist lange her, weit weg! Heute habe ich mit dem Laden kaum noch etwas am Hut. Die leben doch irgendwie in einer anderen Welt, oder?“

      Dominik Thiele zuckte nur mit den Schultern. Er war ein Kind der Großstadt, aufgewachsen in einer Frankfurter Vorstadt. Religion hatte weder in seiner Familie noch in seinen sonstigen Lebenskreisen eine Rolle gespielt. Seine ihn allein erziehende Mutter hielt nichts davon und so hatte er eine religionslose Kindheit verbracht. Und die hatte sich entsprechend in die Jugendzeit und in sein Erwachsenenalter hinein verlängert.

      „Weißt du zum Beispiel, was ein Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft ist oder was man an einem Lehrstuhl für Fundamentaltheologie macht? Hat das was mit Fundamentalismus zu tun? Aber wieso dazu ein Lehrstuhl?“, fragte Kellert seinen Mitarbeiter, der aber nach wie vor völlig verständnislos dreinblickte und nichts dazu zu sagten wusste. „Okay, Moraltheologie, da kann ich mir ja etwas drunter vorstellen, Philosophie auch, aber hier: Alte Kirchengeschichte! Komisch, ist die nicht grundsätzlich alt?“

      In diesem Moment klopfte es an der Bürotür. Automatisch unterbrach Kellert seinen Redefluss und sagte mit ganz anderer, offizieller Stimme: „Herein!“ „Ich möchte eine Aussage machen“, sagte ein schmächtiger, eher kleinwüchsiger jüngerer Mann in schwarzem Anzug und mit weißem Priesterkragen, während er sich unsicher und an seiner silbern eingefassten Brille nestelnd in das Zimmer vortastete.

      „Ach ja, kommen Sie doch.“ Kellert war aufgestanden, hatte den Besucherstuhl herangeschoben und wies nun mit einladender Geste darauf. „Herr, ääh“ – er starrte auf eine Aufstellung, die er sich gemacht hatte – „Herr Dr. Schachner.“ „Richtig“, antwortete dieser beflissen und geschmeichelt darüber, dass man sich nach der gestrigen Befragung an ihn erinnerte. „Dr. Winfried Schachner mein Name. Ich bin Assistent am Lehrstuhl für Dogmatik an der hiesigen Universität.“

      „Ich weiß, ich weiß“, kommentierte Kellert und dachte bei sich: ‚Der sieht nun wirklich genau so aus, wie Beate sich einen Theologieprofessor vorgestellt hat‘, sagte aber: „Was haben Sie denn auf dem Herzen? – Einen Kaffee oder ein Mineralwasser?“ „Nein, nein, danke“, druckste Schachner herum. „Mach mal aus“, brummte Kellert zu seinem Mitarbeiter und deutete dabei auf das Radio. Der erhob sich, schaltete das Gerät aus und setzte sich dann wieder an seinen Platz.

      „Nun ich … ich weiß gar nicht, ob ich Ihnen das überhaupt sagen soll“, begann Dr. Schachner, „aber nach unserem Gespräch gestern hatte ich das Gefühl, als hätte ich Ihnen etwas verschwiegen. Und das nützt ja niemandem, oder?“ „Gut, dass Sie gekommen sind“, ermunterte ihn der Kommissar und blinzelte seinem Mitarbeiter zu. Solche Einleitungen kannten sie schon, und oft genug wurde dann etwas wirklich Wichtiges gesagt. Manchmal freilich auch nur Belangloses. Thiele duckte sich zwar hinter seinen Bildschirm, hörte aber genau zu.

      „Ja, also das war so. Mein Chef, Professor Mühlsiepe, ist ja Ordinarius für Dogmatik.“ – ‚Schönes altes Wort, Ordinarius‘, dachte Kellert, ‚das werde ich in meinen aktiven Sprachschatz aufnehmen.‘ – „Und er hat seit einigen Monaten einen harten Konflikt mit dem Dekan gehabt. Ich weiß nicht genau, worum es dabei ging, mein Chef hat das nie klar angesprochen, aber …“ Er suchte nach Worten.

      „Aber?“, wiederholte Kellert ermunternd.

      „Es gab da einen besonders heftigen Streit. Das muss so vor zwei Wochen gewesen sein. Der Dekan war bei meinem Chef im Dienstzimmer. Ich habe ja das Assistentenzimmer direkt daneben und die Wände sind nicht gerade massiv. Außerdem lasse ich immer meine Zimmertür auf, damit die Studierenden sehen, wann ich da bin. Nun, so kann man zwar normalerweise nicht verstehen, was nebenan gesprochen wird, aber wenn es lauter wird, hört man es schon, ob man will oder nicht.“ Unsicher blickte er zum Kommissar hinüber. Kellert verstand sofort, dass sein Gegenüber unbedingt den Eindruck vermeiden wollte, als heimlicher Lauscher zu gelten, und nickte ihm deshalb aufmunternd zu.

      „Also sie hatten sich eine Zeit lang angebrüllt, dann ging die Tür auf und der Dekan stürmte aufgebracht hinaus. ‚Ich habe lange genug geschwiegen!‘, brüllte er, ‚und ich hatte Sie gewarnt!‘ ‚Gehen Sie nicht zu weit!‘, rief mein Chef, nicht weniger aufgeregt, ‚ich warne Sie!‘ Inzwischen war der Dekan schon einige Schritte entfernt, nun hörte ich, wie er wieder zurückkam. ‚Sie wollen mir drohen?‘, fragte er, nun plötzlich viel gefasster und leise: ‚Sie wollen mir drohen! Machen Sie sich doch nicht lächerlich!‘ Dann ist er leise vor sich hin lachend davongegangen. So ungefähr war das.“

      „Und das war, sagen Sie, vor zwei Wochen?“, fragte Kellert nach. „Ja, ungefähr, warten Sie mal: ja, Montag vor zwei Wochen. Genau, da musste ich mein Seminar etwas eher beenden, weil ich in meiner Gemeinde einen Info-Abend zur diesjährigen Firmvorbereitung halten musste.“

      Der Kommissar überlegte: „Hat noch jemand diesen Streit mit angehört?“ Dr. Schachner zuckte mit den Schultern: „Weiß ich nicht, kann sein. Unsere Sekretärin nicht, die hatte da ihren freien Tag, und von den Hiwis … nein! Da war, glaube ich, auch keiner da. Aber es kann natürlich jemand von den anderen Lehrstühlen etwas mitbekommen haben.“

      „Und worum es bei dem Streit ging, das wissen Sie nicht?“, bohrte der Kommissar nach. „Nein, wirklich nicht. Wissen Sie: Wir sind uns menschlich nicht so nahe, mein Chef und ich. Er ist ein guter Dogmatiker, auch beliebt bei den Studenten, aber als Mensch kommt niemand so richtig an ihn heran. Na ja, so ein typischer Norddeutscher eben.“

      ‚Du scheinst ja sehr klare Kategorien zu haben, Bürschchen‘, dachte Kellert, sagte aber stattdessen neutral: „Soso! Nun, vielen Dank jedenfalls, dass Sie gekommen sind. Ihre Beobachtung muss ja gar nichts bedeuten, aber wir sollten alle Möglichkeiten bedenken.“ Er erhob sich und geleitete Schachner zur Tür. Dort drehte sich dieser noch einmal um und sagte: „Ich kann mich doch darauf verlassen, dass niemand von dieser Aussage erfährt, vor allem mein Chef nicht?!“ „Klare Sache“, nickte Kellert ihm zu, „ist doch selbstverständlich. Auf Wiedersehen!“

      „Komischer Bursche“, meinte Dominik Thiele, als sich die beiden Polizisten wieder allein gegenübersaßen. „Irgendwie zu glatt, zu wenig fassbar, ich weiß nicht.“ „Das schon“, pflichtete ihm sein Chef bei, „aber doch wohl glaubwürdig, oder? Tja, da werde ich wohl noch einmal an die Uni fahren müssen. Mal sehen, ob an der Sache etwas dran ist.“

      „Soll ich mitkommen, Chef?“ „Nein, das mache ich am besten allein. Überprüfe du doch mal das private Umfeld von Gerstmaier und seine finanziellen Verhältnisse. Vielleicht hat der Mord ja gar nichts mit der Uni zu tun.“ „Aber die verschwundenen Papiere!“, gab Thiele zu bedenken. „Gut, dass du die erwähnst, da muss ich auch noch einmal nachhaken. Das werden wir schon sehen, ob die wichtig sind.“ ‚Aha‘, dachte Dominik Thiele, ‚Kellert nimmt eine Fährte auf. So kenne ich ihn.‘

      Mittwoch, 12. Mai, vormittags

      Prodekan Hermann-Josef Kösters hockte missmutig in seinem Büro. Das mittellange braune Haar, sonst immer streng gescheitelt und gekämmt, hing ihm ungeordnet über Stirn und Hornbrille. Rechts und links an den Wänden zogen sich Regalreihen hoch, vollgestellt mit Karteikästen, Leitzordnern, Büchern. Da blieb kein Platz frei für Bilder.