Diese Etappe der Gemeinde- und Identitätsbildung der Zugezogenen in einer doppelten Diaspora war besonders von einem Zusammen- und Miteinanderleben geprägt.17 So stand die Sammlung der zerstreut lebenden katholischen Heimatvertriebenen damals im Mittelpunkt. Diese „Neubürger“ waren im Aufnahmegebiet aufgerufen, sich zu katholischen Gottesdiensten und Gemeinden zusammenzufinden. Um eine ortskirchliche Identifikation zu erreichen, war man bemüht, Gemeinschaftsgeist und Zusammenhalt unter den zugezogenen Katholiken, die verschiedenen Regionen und Traditionen entstammten18, auszubilden. Unterschiede der Abstammung, der Herkunft, des Alters, der Tradition – all das in einer neuen, fremden Umwelt – sollten in der neuen kirchlichen Gemeinde verschmelzen zu einer „lebendigen Pfarrei“ heterogener Art.
Dabei erscheint das kirchliche Zusammenleben als eine Durchgangsphase auf dem Weg der Gemeindebildung zur katholischen Kirche in der SBZ und DDR zu sein. Nach der Ankunft und Sammlung der Zugezogenen wurden somit erste präformierende Strukturen geschaffen, die auf die Bildung von Gemeinden und später eigenständigen Pfarreien hindeuteten. Da die meisten Heimatvertriebenen an eine baldige Rückkehr in ihre alte Heimat glaubten, waren diese Strukturen nur vorläufige. Man traf sich zum Gottesdienst und empfing die Sakramente; an eine Dauerhaftigkeit dieses Zustandes in den Aufnahmegemeinden glaubten die meisten „Neubürger“ nicht. Aus dieser liturgiezentrierten Versammlung der verschiedenen Landsmannschaften bildete sich erst allmählich eine kanonisch errichtete Pfarrei. Festzuhalten ist aber auch, dass zahlreiche katholische Heimatvertriebene den Weg zur Kirche nicht fanden oder sich von ihr abwandten. Dieser frühen Phase der Gemeindebildung entspricht annähernd das Verhaltensmuster des sogenannten Attentismus, das sich durch die Konfrontation mit den politischen Rahmenbedingungen immer mehr auflöste.19 Aus einer abwartenden Grundhaltung erwuchsen neue Perspektiven, sodass man aus heutiger Sicht diese Phase als eine Form der transitorischen Gemeindebildung beschreiben kann: Sie war durch die attentistische Grundhaltung nicht von Anfang an festgelegt auf die Herausbildung eines Systems der Pfarrorganisation. Erst durch die Irreversibilität der Vertreibung und die gewonnene Erkenntnis der Vertriebenen, nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren zu können, ergaben sich beständigere Strukturen.
Die kirchliche Sammlung und das Zusammenleben waren also wesentliche Voraussetzungen dafür, neue Gemeinden zu bilden und Gemeindebewusstsein aufzubauen. Dabei ist der Begriff der Gemeinde umfassender als der der Pfarrgemeinde. Gemeinde bedeutet übernatürliche Wirklichkeit, die in der Feier der Hl. Messe Ereignis wird. Die Gemeinde repräsentiert die Kirche. Die Beheimatung in diesen Gemeinden wurde favorisiert und eine Eingliederung angestrebt. Unverkennbar festzustellen ist – durch das Zusammenleben befördert – ab ca. 1955 eine andere, eigene Mentalität unter den Vertriebenen. Schließlich wurde immer deutlicher, dass nach zehnjährigem Aufenthalt in Mitteldeutschland die Ergebnisse von Flucht, Vertreibung und Grenzziehung irreversibel waren und der bisherige Attentismus beendet werden musste.
1Vgl. A. Fischer, Pastoral in Deutschland nach 1945. Band II. Zielgruppen und Zielfelder der Seelsorge 1945-1962, Würzburg 1986, 151.
2Vgl. E. Puzik, Gedanken zur Flüchtlingsseelsorge (Referat 1947), in: H. Unverricht / G. Keil (Hg.), De Ecclesia Silesiae. Festschrift zum 25jährigen Bestehen der Apostolischen Visitatur Breslau, Sigmaringen 1997, 9-15.
3Vgl. J. Pilvousek / E. Preuß, Katholische Flüchtlinge.
4Vgl. zu den ersten drei Punkten (1-3a) A. Fischer, Pastoral, Bd. II, 159.
5Vgl. T. W. Müller, Neue Heimat Eichsfeld?
6E. Puzik, Gedanken, 12.
7In der Missionspraxis der Kirche seit Gregor dem Großen hat sich die Glaubensverkündigung in Brauchtum, Denkweise, Sitte, Philosophie usw. an den Eingeborenen anzupassen, nicht umgekehrt. Vgl. Ebd.
8J. Pilvousek, Flüchtlinge, 15.
9Vgl. J. Pilvousek / E. Preuß, Katholische Flüchtlinge, 21.
10Vgl. K. Mörsdorf (Hg.), Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici. Bd. 1, Paderborn 91959, 201.
11Vgl. E. Puzik, Gedanken, 14f.
12Vgl. T. W. Müller, Neue Heimat Eichsfeld?
13Vgl. E. Puzik, Gedanken, 12.
14Dies gilt zum Großteil auch für die Vertriebenen, die im Eichsfeld unterkamen. Beispielsweise führte der Ausschluss der Flüchtlinge aus dem gesellschaftlichen Leben des Eichsfelddorfes Flinsberg 1954 dazu, „daß es bis jetzt noch regelmäßig Zusammenkünfte der ehemaligen Umsiedler im Ort gibt, in denen die Sorgen und Nöte dieser Menschen besprochen werden.“ J. Gruhle, Ohne Gott und Sonnenschein. Band 3. Altkreise Eisenach, Heiligenstadt und Mühlhausen. Eine Dokumentation, Nauendorf 2002, 97.
15Vgl. Leitsätze zur Diasporaseelsorge, in: Handreichungen zur Seelsorge. Herausgegeben vom Seelsorgeamt Magdeburg (1949) Heft 1, 1-6, hier 2.
16Vgl. A. Fischer, Pastoral, Bd. II, 159.
17Der Bereich der Tischgemeinschaft ist hierbei von besonderem Interesse, da die Kommensalität einen Teil der klassischen Integrationstrias – Kommerzium, Kommensalität und Konnubium – ausmacht. Die Trias ist eine Testskala, um das Verhältnis von Einheimischen und Vertriebenen zu definieren und wird in vorliegender Arbeit nicht angewandt, da im kirchlichen Bereich eine Diasporasituation vorherrschte: die zugezogenen Katholiken konnten sich in keine katholische Gemeinschaft integrieren, da es sie bis dahin gar nicht gab. In allgemeinhistorischer Hinsicht ist die Trias durchaus anwendbar, auch wenn sie nicht die tatsächliche Geschichte widerspiegelt und keine Auskunft über Mentalitäten gibt. Vgl. J. Pilvousek, Flüchtlinge.
18Die katholischen Heimatvertriebenen entstammten verschiedenen Regionen, sprachen unterschiedliche Dialekte, gehörten diversen kulturellen und sozialen „Milieus“ an; ihre Einheit in geschichtlicher Prägung, in Tradition, Brauchtum, Sitte, Heimaterinnerung und Heimatbezogenheit auf landsmannschaftlicher Ebene müssen besonders betont werden, da die Zugezogenen keine homogene Einheit bildeten, die man berechtigt wäre, den Eingesessenen gegenüberzustellen. Vgl. P. P. Nahm, Der kirchliche Mensch in der Vertreibung. Die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Wirkungen des Eingliederungsauftrages unter besonderer Berücksichtigung des kirchlichen und konfessionellen Bereichs, Wolfenbüttel 31961, 110f.
19Der Begriff des „revolutionären Attentismus“ wurde vom Historiker Dieter Groh benutzt, um das Warten der sozialdemokratischen Arbeiterschaft auf die sozialistische Revolution zu beschreiben. Im Zusammenhang mit der Vertriebeneneingliederung muss allerdings festgehalten werden, dass der Begriff zwar die vorherrschende Abwartehaltung treffend beschreibt, jedoch kein untätiges, passives Warten intendiert. Wenn auch zahlreiche Handlungsentscheidungen innerhalb der Gruppe der Heimatvertriebenen aufgeschoben wurden, da man anfangs eine baldige Rückkehr in die Heimat erhoffte,