Alles Materie - oder was?. Hans-Dieter Mutschler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans-Dieter Mutschler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Религия: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783429062712
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Dagegen betont Dawkins, dass Gott nicht „gegen die Regression immun“ sei. Er ist nicht der Einzige, der so argumentiert. Seit Bertrand Russell wird immer wieder gegen Gott als Erstursache eingewandt, dass es sinnlos sei, Gott als Ursprung aller Dinge anzusehen, denn dann könne man leichthin weiterfragen, was wohl die Ursache für Gott sei.

      Dem liegt eine prinzipielle Verwirrung zugrunde. Die Kette der Ursachen und Wirkungen, wie wir sie heute verstehen, geht grundsätzlich ins Unendliche, denn zu jeder Wirkung lässt sich eine weitere Ursache finden, weshalb auch der Urknall nichts absolut Erstes, sondern nur ein relativ Erstes ist, relativ nämlich zu den heute akzeptierten Theorien und Messdaten. Aber Gott ist nicht Ursache in diesem modernen Sinn, sondern Ursprung und das ist etwas ganz anderes, denn im Mittelalter kannte man noch nicht den modernen Kausalitätsbegriff, der den regressus in infinitum einschließt, wie wir das heute tun. Man suchte vielmehr nach einem ersten Ursprung aller Dinge, und wenn die modernen Materialisten glauben, dass solche Fragen des Mittelalters metaphysisch und deshalb sinnlos seien, dann irren sie sich sehr, denn sie fragen ihrerseits ebenfalls nach dem Ursprung aller Dinge und finden ihn in der Materie. Auch wenn ich ein Materialist bin, setze ich also ein Letztes, nicht mehr Relativierbares, d. h. einen echten Ursprung, voraus, bei dem der regressus in infinitum zum Stillstand kommt. In dieser Sichtweise ist die Materie der Grund aller Dinge, und deshalb wird kein Materialist die Frage nach der Ursache der Materie zulassen. Ließe er sie zu, gäbe es nur zwei Möglichkeiten: Entweder die Ursache der Materie wäre wiederum etwas Materielles, dann werden wir die Frage wiederholen. Oder die Ursache der Materie ist etwas Immaterielles, dann hat er seine Weltanschauung aufgegeben. Er wird also die Frage nach der Ursache der Materie grundsätzlich ablehnen. Aber warum polemisiert er dann gegen die Christen, die die Frage nach der Ursache von Gott für sinnlos halten?

      Wir unterscheiden heute nicht mehr zwischen ‚Ursache‘ und ‚Ursprung‘, weil wir glauben, dass die Welt hinreichend durch Kausalanalyse begreifbar ist, wie sie in den Naturwissenschaften dargestellt werden. Aber die metaphysische Frage nach dem Ursprung ist damit noch nicht beantwortet und liegt auch auf einer ganz anderen Ebene. Will man die Texte des heiligen Thomas von Aquin wirklich verstehen, dann sollte man zur Kenntnis nehmen, dass er einen Ursachenbegriff hatte, der beides einschloss, Wirkursachen und zugleich damit die Frage nach einem letzten Ursprung. Das liegt daran, dass er teleologisch dachte: Die Kette der Wirkursachen verweist zugleich auf einen höchsten, nicht mehr relativierbaren Zweck. Man kann argumentieren, dass wir heute eine solche Auffassung von Kausalität nicht mehr vertreten können. Aber dann sollte man die Texte erst einmal richtig verstanden haben. Dazu ist einiges an hermeneutischer Vorarbeit nötig, denn man kann nicht einfach davon ausgehen, dass in Texten, die 700 Jahre alt sind, die Begriffe im selben Sinn gebraucht werden wie heute. Der Theologiestudent lernt so etwas im ersten Semester. Aber Atheisten wie Richard Dawkins ersparen sich die elementarsten Kenntnisse, die notwendig sind, um solche Texte zu verstehen.

      Besonders abstoßend ist Dawkins’ Interpretation des vierten Gottesbeweises aus den Vollkommenheitsstufen, der ebenfalls auf dem Ausschluss des regressus in infinitum beruht. Nach Thomas gibt es Vollkommenheitsstufen im Universum. In aufsteigender Reihenfolge: Steine, Pflanzen, Tiere, Menschen, und diese Wertstufen verweisen auf eine höchste Vollkommenheit, die Thomas mit Gott gleichsetzt. Nun könnte man nach Dawkins dasselbe Muster anwenden, um zu beweisen, dass es einen ultimativen, unüberbietbaren Stinker gibt, und zwar auf diese Art: Es gibt Menschen, die in verschiedenem Grade stinken. Also muss es ein Höchstmaß an menschlichem Gestank geben, mithin den absoluten Stinker, der dann alles überstänke.

      Aber ist Gestank im Ernst eine Vollkommenheit? Doch selbst wenn wir Dawkins’ Argument auf Wohlgerüche beziehen würden, ließe sich dann mit Thomas beweisen, dass es den wohlriechendsten Menschen geben müsse, relativ zu dem keiner besser röche? Es scheint, dass das die Sache auch nicht besser macht, denn es geht Thomas offenkundig um essentielle Eigenschaften, nicht um akzidentelle. Gut zu riechen oder zu stinken sind akzidentelle Eigenschaften des Menschen. Die Vollkommenheitsstufen, von denen Thomas spricht, sind aber essentielle Eigenschaften der entsprechenden Wesen, seien es Steine, Pflanzen, Tiere oder Menschen.

      An sich steht das in jedem Handbuch, und wer auch nur oberflächlich mit Thomas vertraut ist, weiß, dass er bei akzidentellen Verhältnissen den regressus in infinitum nicht ausschließt. Z. B. hielt er es für unmöglich, den Anfang der Zeit zu beweisen, obwohl es in der Bibel so dargestellt wird. Wäre der Ausschluss des regressus in infinitum auf die akzidentelle Bestimmung der Zeit anwendbar, dann hätte Thomas ganz leicht ihren ersten Anfang beweisen können.

      Selbstverständlich können wir auch Thomas’ Gottesbeweis aus den Vollkommenheitsstufen kritisieren. Sowohl die Idee einer gestuften Vollkommenheit als auch die Idee essentieller Eigenschaften werden von vielen modernen Philosophen in Frage gestellt. Aber diese Philosophen haben die Texte wirklich gelesen und sich die Mühe gemacht, sie hermeneutisch zu erschließen. Aber Richard Dawkins hat sie nur durchgeblättert und sich noch nicht einmal bei Wikipedia informiert. Was würde er von einem Theologen halten, der seine eigenen Bücher durchblättert, um sie anschließend zu kritisieren?

      Vielleicht noch ein Beispiel für die Unbedarftheit der neuen Atheisten: Der Biologe Franz Wuketits ist ebenfalls Mitglied der Giordano-Bruno-Stiftung und schreibt ein Buch nach dem andern, in dem er eine materialistische Weltanschauung aus der Biologie glaubt ableiten zu sollen. Aus diesen zahlreichen Büchern sei hier nur ein bestimmtes Beispiel herausgegriffen, um die ganze Art des Denkens in seiner Schlichtheit zu veranschaulichen. Wuketits bezeichnet die natürlichen Organismen des Öfteren als „Pfusch“. Er denkt an so etwas wie die Kreuzung von Luft- und Speiseröhre, die zwar gewöhnlich durch einen Kehldeckel abgeschlossen werden, aber manchmal funktioniert die Klappe nicht richtig und die Speisen gelangen fälschlicherweise in die Luftröhre, so dass manche sogar daran ersticken. Ein Ingenieur hätte das sicher anders gemacht. Er hätte zwei separate Eingänge geschaffen, damit Luft und Speisen getrennt in den Körper gelangen. Da das bei uns nicht der Fall ist, beurteilt Wuketits solche ‚Fehlkonstruktionen‘ als „Pfusch“.

      Aber warum eigentlich? Die Natur geht doch nicht auf dieselbe Weise vor wie ein Ingenieur! Der Ingenieur ist handlungsentlastet, wenn er ein neues Gerät entwirft. Er programmiert es in Ruhe am Computer, lässt einen Prototyp herstellen, testet seine Eigenschaften, verbessert noch dieses oder jenes und entlässt erst dann seine Neuentwicklung auf den Markt. Aber so geht die Natur nicht vor, denn die Natur muss ihre ‚Konstruktionen‘ bei voller Leistung umbauen und ständig verbessern. Hier gibt es keine Handlungsentlastung, sondern alle Organismen sind einem ständigen Selektionsdruck, d. h. einem mörderischen Wettbewerb ausgesetzt, dem sie standhalten müssen, sonst verschwinden sie von der Bildfläche.

      Kein Ingenieur auf Erden wäre fähig zu dem, wozu die Natur seit vier Milliarden Jahren fähig ist: bei voller Leistung und im vollen Lauf eine Maschine umzubauen und zu verbessern, sagen wir, aus einem Automobil nach und nach ein Flugzeug zu machen, das im Grenzfall bei der Bewegung auf der Erdoberfläche genauso effizient ist, wie wenn es sich in die Lüfte erhebt. Tatsächlich bemühen sich die Ingenieure seit vielen Jahrzehnten, ein Flugauto zu bauen, bringen es aber nicht fertig, weil die Anforderungen an ein Auto und an ein Flugzeug in eine ganz andere Richtung gehen. Aber die Natur hat dieses Kunststück fertiggebracht. Und da spricht Herr Wuketits von „Pfusch“!

      Dass also die natürliche Evolution merkwürdig scheinende Konstruktionen hervorgebracht hat, liegt einfach daran, dass sie keine Zeit hatte, einen Schritt zurückzutreten und wieder von vorne anzufangen. Das bereits Existierende muss bei voller Leistung umgebaut werden. Natur geht eben nicht vor wie ein Ingenieur. Es ist schlichtweg peinlich, einen Biologen daran erinnern zu müssen, dass Natur und Technik zweierlei sind und dass deshalb von „Pfusch“ keine Rede sein kann. Aber wieso kommt Wuketits überhaupt auf eine derart weit hergeholte Idee?

      Charles Darwin sollte zunächst auf Wunsch seines Vaters Theologe werden, obwohl er schon immer eine Neigung zur Naturforschung hatte. Also fing er brav an, Theologie zu studieren, und beschäftigte sich unter anderem mit der natürlichen Theologie William Paleys. Bei Paley gibt es einen teleologischen Gottesbeweis aus der Vollkommenheit der Organismen: Wenn ich am Strand eine Uhr finde, dann werde ich auf ihren Urheber schließen, und so sei das auch mit den in der Natur vorfindlichen Organismen. Sie seien so perfekte Maschinen, dass wir auf einen göttlichen Konstrukteur