Es ist jedenfalls so, dass die Säkularisierungsthese höchstens für Westeuropa etwas Reales bezeichnet, und dann auch nur, wenn wir die Blüte der Esoterik und den Einfluss ostasiatischer Religionen ignorieren. Jürgen Habermas hat deshalb für unsere Epoche den Begriff ‚postsäkular‘ geprägt, worauf der Religionssoziologe Hans Joas gallig bemerkte, eine Gesellschaft, die niemals wirklich säkularisiert war, könne auch nicht später postsäkular geworden sein. Für Hans Joas ist die ganze Rede von ‚Säkularisierung‘, ‚postsäkular‘ usw. ein Artefakt, eine soziologische Erfindung, die wenig mit der Realität zu tun hat.
Das heißt also: Wer sich gegen den Glauben entscheidet, mag seine guten Gründe haben. Zu behaupten, Jesus Christus sei museal, überholt wie die griechischen Götter, liegt aber ganz falsch. An Zeus, Hera und Apoll glaubt niemand mehr, aber auf der Erde leben inzwischen mehr als zwei Milliarden Christen, die ihren Glauben ernst nehmen!
Die klugen Materialisten sind klug genug, sich nicht auf die Naturwissenschaft zu berufen, wie die gleich zu behandelnden Primitivatheisten. Sie haben seriösere Gründe. Heute aber dominiert ein Primitivatheismus, der glaubt, die Religion sei falsch, weil Physik und Biologie wahr seien. In der Tat kommt Gott weder in der Physik noch in der Biologie vor. Aber das ist so ähnlich, wie der Ingenieur in den Betriebsanleitungen einer Waschmaschine oder eines Computers nicht vorkommt. Würden wir daraus schließen, dass diese technischen Geräte auf den Bäumen wachsen und nicht vielmehr vom Menschen gemacht wurden?
b. Der primitive Materialismus
Das nun Folgende ist nicht sehr appetitlich. Der Primitivmaterialismus, der auch der ‚neue Atheismus‘ genannt wird, ist so unbedarft, dass man sich stellvertretend für seine Anhänger schämen muss, dass sie sich nicht mehr Mühe geben. Ungefähr so, als würde man den Inhalt von Einsteins Relativitätstheorie in dem Satz zusammenfassen „Es ist alles relativ“, was man zwar oft hört, was aber nur dem einleuchten wird, der keine Ahnung von der Sache hat. Die neuen Atheisten wissen in der Regel nicht, wovon sie reden. Sie haben noch nicht einmal ein elementares Handbuchwissen vom Glauben, geschweige denn, dass sie sich ernstlich mit Theologie auseinandergesetzt hätten. Es ist einfach nur peinlich.
Ihr Begriff von Religion lautet ungefähr so: Wenn früher eine Sonnenfinsternis eintrat, flüchteten die Menschen in die Tempel oder in die Kirchen, denn die Sonne war der Platzhalter des Guten und die Finsternis stand für das Böse. Die Sonnenfinsternis war also zugleich eine Verdunklung des Göttlichen, d. h. des Guten. Seit Galilei und Newton haben wir jedoch die Gesetze der Planetenbewegungen und die der Monde erkannt und können eine Sonnenfinsternis präzise vorhersagen. Damit entfällt der ganze Aberglaube, und die Wissenschaft verdrängt die Religion als eine Form der primitiven Unwissenheit. Mehr Schlichtheit ist kaum denkbar.
Es gibt in Deutschland eine Art Atheistenkirche, nämlich die Giordano-Bruno-Stiftung. Sie setzt sich für die Verbreitung des Unglaubens ein und beruft sich dabei vornehmlich auf die Naturwissenschaft. Tatsächlich sind einige Mitglieder dieser Stiftung Naturwissenschaftler wie Bernulf Kanitscheider, Franz Wuketits, Gerhard Vollmer, Ulrich Kutschera, Volker Sommer, Eckhard Voland, aber auch Philosophen wie Hans Albert oder Dieter Birnbacher.
Diese Stiftung veranstaltet Wochenendseminare, wie z. B. eines über den Löffelzerbieger Uri Geller. Geller gibt vor, Löffel auf Distanz und ohne Berührung verbiegen zu können, doch die Giordano-Bruno-Stiftung erklärt uns den Trick. Sehr verdienstvoll, aber sie erhebt damit zugleich den Anspruch, religiöse Wunder entlarvt zu haben. Die fundamentale Differenz zwischen einem Mirakel und einem Wunder scheint ihnen unbekannt. Magie war schon im Alten Testament verboten, geschweige denn im Neuen Testament, aber Wunder haben eine völlig andere Bedeutung als bloße Mirakel oder als Magie.
In Lourdes geschehen Heilungswunder, gut bezeugt von völlig materialistisch eingestellten Wissenschaftlern. Dagegen wird eingewandt, dass auch an ganz gewöhnlichen Kliniken unerklärliche Spontanheilungen geschehen und dass ihr prozentualer Anteil nicht geringer sei. Wäre dies eine Widerlegung der Wunder von Lourdes? Wird ein Todkranker, der im gläubigen Vertrauen nach Lourdes pilgert und der wieder gesund wird, seine Genesung als statistische Schwankung und nicht vielmehr dennoch als ein Wunder ansehen, möge an den profanen Kliniken geschehen, was da wolle? Tatsächlich ist das Mirakel per se kein Wunder, sondern nur ein auffälliges Geschehen, das im Glaubensvollzug eine bestimmte Bedeutung hat. Das Mirakulöse ist also nicht der entscheidende Punkt, und dass es an gewöhnlichen Kliniken Spontanheilungen gibt, ist kein Argument gegen das Wunder, das seine eigentliche Kraft aus dem Glauben zieht.
Der Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung ist der Philosoph Michael Schmidt-Salomon. Er schrieb für diese Stiftung eine programmatische Schrift mit dem Titel „Manifest des evolutionären Humanismus“, in der er zehn neue Gebote verkündet, sich also dreist mit Moses auf eine Stufe stellt. Ansonsten sagt er, was ihm so einfällt. So behauptet er, dass den Menschen „in religiösen Dingen jegliches Gefühl für intellektuelle Redlichkeit verloren“ gehe. Oder: „Kein noch so verkommenes Subjekt unserer Spezies hat jemals derartig weitreichende Verbrechen begangen, wie sie vom Gott der Bibel berichtet werden.“ Jesus habe für die Ungläubigen eine „Endlösung“ nach Art der Nazis vorgesehen, so dass er ihn dreist mit Josef Goebbels (!) vergleicht. Das ist ebenso böswillig wie ignorant. So wenig wie ein Mirakel von sich aus schon ein Wunder ist, so wenig sollte man eine prophetische Rede, die aufrüttelt, wörtlich nehmen. Aber diese Art von neuen Atheisten hat noch nicht einmal ein elementares Basiswissen über den Glauben. Umso ungenierter lässt es sich lästern. So ließ sich neulich Schmidt-Salomon mit dem Ausspruch hören, das Christentum sei „die dümmste Religion auf Erden“, und vor Kurzem schrieb er sogar einen Roman, um dies zu zeigen. Religionen, die den heiligen Krieg lehren oder die das Kastenwesen rechtfertigen, scheinen ihn weniger zu stören. Man sieht, es geht hier nicht um Information, sondern um Provokation, und zwar um der Provokation willen.
Der Philosoph Ansgar Beckermann, der niemals aus seinem Atheismus einen Hehl gemacht hat, kritisiert, dass die neuen Atheisten die gläubigen Menschen behandeln wie „Deppen“. Das ist zunächst auf Richard Dawkins gemünzt, den man ebenfalls zu den neuen Atheisten rechnet und der in seinem Buch „Der Gotteswahn“ alles Schlechte in dieser Welt auf die Religion zurückführt. Das heißt also, ein Atheist wie Beckermann grenzt sich trotzdem ganz deutlich von diesem Primitivatheismus ab, der sich heute so unangenehm breitmacht.
In einem Fernsehinterview wurde Richard Dawkins gefragt, wie man mit der Tatsache umgehen solle, dass die größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts Atheisten waren, also Hitler, Stalin, Mao oder Pol Pot, wenn doch alles Böse von der Religion kommt, wie Dawkins unterstellt. Er gab jedoch ungerührt zur Antwort „All diese Verbrecher waren in Wahrheit gläubig“. Das heißt: Alles Schlechte ist von Hause aus religiös, so wie alles Religiöse von Hause aus schlecht ist. In den 60ern hat man ganz ähnlich argumentiert: „Alle Kommunisten sind links, also sind alle Linken Kommunisten.“ Auf Grund dieser Logik lässt sich leicht aus einer Maus ein Elefant machen: „Alle Elefanten sind Säugetiere, alle Mäuse sind Säugetiere, also sind alle Mäuse Elefanten.“ Wenn es den neuen Atheisten um Religion geht, setzen sie selbst die elementarsten Regeln der Logik außer Kraft.
Hier eine weitere Kostprobe aus Dawkins „Der Gotteswahn“, die zeigt, wie unbedarft und unwissend diese Art von Religionskritik ist: Dawkins bezieht sich in diesem Buch auf die fünf Gottesbeweise des heiligen Thomas von Aquin. Diese Gottesbeweise hängen fast alle an dem Ausschluss des regressus in infinitum. Thomas argumentiert z. B. im ersten Gottesbeweis so, dass es in der Welt offenkundig Bewegung = Veränderung gibt. Nun erkläre sich aber die Bewegung nicht aus sich selbst, sondern was in Bewegung ist, muss von etwas anderem bewegt werden. In der Kette der Bewegungsursachen müsse man aber zu einem Ersten kommen, sonst würde sich auch jetzt nichts bewegen. Also könne man auf die Existenz eines ersten unbewegten Bewegers schließen, den Thomas mit Gott identifiziert. Dawkins sieht richtig, dass dieser Beweis am Ausschluss des regressus in infinitum hängt, denn nur dann kann man auf einen ersten Anfang der Bewegungsursachen schließen. Tatsächlich schließt Thomas ganz grundsätzlich das Unendliche als