Alles Materie - oder was?. Hans-Dieter Mutschler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans-Dieter Mutschler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Религия: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783429062712
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eine Bedrohung der bürgerlichen Freiheit, und was ihn besonders beunruhigt, sind die fortschreitenden Medizintechnologien, die in eine neue Form der Barbarei hineinführen könnten, dann nämlich, wenn Menschen die Eigenschaften ihrer Nachkommen manipulieren, ohne dass diese die Möglichkeiten hätten, sich zu wehren. Ein weiterer Grund – aber das sagt er nicht so laut – könnte sein, dass er Zweifel am eigenen Projekt hat.

      Habermas ist ein großer Intellektueller, und er entwirft sein Konzept des Staates allein von der Vernunft her. Alles Substanzielle, Nationale, Patriotische, Metaphysische lehnt er ab. Daher übernahm er von Dolf Sternberger den merkwürdigen Begriff des ‚Verfassungspatriotismus‘. Das ist ein weit hergeholtes Hirnkonstrukt. Der Patriot opfert im Grenzfall sein Leben für den Staat, aber wer wird bereit sein, für eine Verfassung zu sterben? Vielleicht sind diesem großen Intellektuellen inzwischen doch Zweifel am eigenen Intellektualismus gekommen, denn der Staat reproduziert seine sittliche Substanz – wenn überhaupt – aus Leidenschaft und nicht aus der reinen Vernunft – so wie auch sonst die Kinder gezeugt werden. Ein aus Vernunft gezeugtes Kind würde in eine lieblose Welt hineingeboren.

      Jedenfalls kann man sich gut vorstellen, dass Habermas aus Verzweiflung über die sittliche Erosion der Gesellschaft dort Hilfe sucht, wo er noch genügend Substanz vermutet: bei der Kirche. Er würde natürlich nie so weit gehen, den Glauben als Remedium der modernen Krankheit zu empfehlen, denn in Wahrheit hat er ein rein instrumentelles Verhältnis zur Religion. Er sieht in ihr so etwas wie das Rohöl der Vernunft, das mit Hilfe der „Theorie des kommunikativen Handelns“ aufgecrackt und in gebrauchsfähigen sozialen Treibstoff verwandelt werden muss. Die Religion ist ihm lediglich Mittel zum Zweck der Vernunft.

      Wie auch immer, wir können in diesem Dialog Ratzinger – Habermas ein Symptom dafür sehen, dass verantwortliche Vertreter gegensätzlicher Weltanschauungen das moralische Defizit der modernen Gesellschaft erkannt haben, das durch den Verlust des Glaubens hervorgerufen wurde. Auf einer kollektiven Ebene haben wir es nicht vermocht, diesen Verlust zu kompensieren, und eine Zivilreligion wie in den USA existiert bei uns nicht. An diese Zivilreligion und an den intakten Patriotismus der US-Amerikaner konnte John F. Kennedy appellieren. Ludwig Erhard hätte das nicht gekonnt, selbst wenn er es gewollt hätte, aber er wollte ja gar nicht. Wir sehen also, dass ein verantwortungsvoller Atheist wie Jürgen Habermas die Religion als etwas Wertvolles ansieht, auch wenn er nach wie vor bekennt, „religiös unmusikalisch“ zu sein.

      In seiner Friedenspreisrede von 2001 bezieht sich Habermas weiter auf einen religiösen Inhalt, der den Übergang vom Kollektiven zum Persönlichen markiert. Es wurde oben gesagt, dass der Verlust der Religion in beiden Bereichen eine merkliche Lücke hinterlässt, sowohl im Bereich der Gesellschaft als auch im Bereich des Individuellen. Die Primitivatheisten, von denen weiter unten die Rede sein wird, betrachten den Verlust der Religion als Gewinn in jeder Hinsicht. Sie verweisen auf die sattsam bekannten dunklen Seiten der Kirchengeschichte wie Kreuzzüge, Hexenverbrennungen, Ketzerverfolgungen, Inquisition, Zwangsbekehrungen usw., und sie führen das Elend der Welt insgesamt als ein Argument gegen die Existenz Gottes ins Feld. Ist Gott abgeschafft, dann braucht es keine Kirche mehr, ihre dunklen Seiten entfallen automatisch und das Theodizeeproblem ist gelöst. Wo es keinen guten Gott gibt, ist auch das Elend der Welt keine Instanz mehr gegen seine Güte, und wo es keine Kirche mehr gibt, gibt es auch keine Kreuzzüge.

      All das wird heute gebetsmühlenhaft wiederholt, aber es wird nicht besser durch diese rein mechanische Wiederholung, denn das Elend der Welt verschwindet noch lange nicht allein dadurch, dass wir Gott abschaffen. Im Gegenteil – es verschärft sich. Denn nun gibt es, wie Habermas in seiner Friedenspreisrede zu Recht bemerkt, keine Hoffnung mehr für die Opfer der Geschichte. Das ist nämlich die Kehrseite der Medaille: Gibt es keinen Gott, dann gibt es auch keine Auferstehung. Dann ist das Grab das letzte Wort über die Opfer der Geschichte, und Hitler hat dasselbe Schicksal wie die von ihm ermordeten Juden. Sie modern gleichermaßen im Grab.

      Kant hielt dies für einen unerträglichen Skandal der Vernunft, so dass er daraus einen Gottesbeweis machte. Es ist nach Kant der Vernunft schlicht nicht zuzumuten – bei Strafe ihrer Selbstzerstörung –, dass wir glauben sollen, der moralisch recht Handelnde, der von den Intriganten und Mächtigen gequält und ermordet wurde, solle auf Dauer dasselbe Schicksal erleiden wie diese Mächtigen, die sich ein gutes Leben auf seine Kosten gemacht haben. Ob dies einen Gottesbeweis hergibt, können wir auf sich beruhen lassen. Ganz gewiss jedoch ist, dass Habermas recht hat, wenn er hier einen unersetzlichen Verlust sieht, den das Verschwinden der Religion nach sich zieht.

      Die Primitivatheisten gehen mit dem Slogan hausieren: „Glaubst du noch oder denkst du schon?“ Danach würde ein rational denkender Mensch den Glauben von sich werfen wie ein schmutziges, zerschlissenes Hemd, um atheistisch frisch ausstaffiert einer strahlenden Zukunft der vorurteilsfreien Vernunft entgegenzusehen. Auf der anderen Seite gibt es kluge Philosophen, die den Verlust des Glaubens beklagen, auch wenn sie ihn nicht mehr nachvollziehen können. Dazu gehört z. B. der Philosoph Herbert Schnädelbach. Er bekennt, dass er nicht glauben könne, und hält das Christentum historisch für überholt. Aber als ein gebildeter Mensch geht er schon mal ins Konzert und hört den Schlusschoral aus Bachs Johannespassion:

      Ach, Herr, lass dein lieb Engelein

      am letzten End die Seele mein

      in Abrahams Schoß tragen.

      Oder Felix Mendelssohns Vertonung des 91. Psalms:

      Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir,

      dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen,

      dass sie dich auf Händen tragen

      und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.

      Schnädelbach gesteht, dass er diese Musik nicht hören kann, ohne tief berührt zu werden oder sogar zu weinen. Aber wenn er das Konzert verlassen hat, dann erscheint ihm das alles nur noch wie ein wesenloser Traum von gestern.

      Für Menschen wie Schnädelbach ist die christliche Musik wie für unsereins der Besuch in einem Museum für griechische Kunst. Wir stehen staunend vor den Skulpturen der griechischen Götter, und ihre ästhetische Wucht springt uns an wie ein gefährlicher Tiger von hinten. Keine Chance. Wir sind überwältigt und glauben für einen Moment, dass diese Götter real seien. Aber nur so lange, wie wir uns im Museum aufhalten. Draußen hingegen erfasst uns wieder der nüchterne Alltag, und die griechischen Götter werden museal und kommen herab zur bildungsbürgerlichen Reminiszenz.

      Um 1800 schwärmte ganz Deutschland für die griechische Mythologie. Goethe hat seinen Faust II reichlich damit ausstaffiert. Aber es wirkt gipsklassizistisch, wie ein zweiter Aufguss, und man kann auch davon ausgehen, dass Goethe selbst nicht an diese mythologischen Gestalten glaubte. Für ihn war die griechische Mythologie ein Reservoir kraftvoller Symbole, aus dem er sich bediente. Dass er all dies nicht so furchtbar ernst nahm, sieht man daran, dass er am Ende von Faust II plötzlich in eine christliche Symbolik verfällt, aber auch diese nahm er nicht wirklich ernst. Für ihn waren es einfach nur besondere kräftige Farben auf dem Pinsel seiner Poesie.

      Für Intellektuelle wie Schnädelbach sind Jesus, Maria und Josef eher wie Zeus, Hera und Apoll: Gestalten der Geschichte, die eine museale Rührung in uns hervorrufen, die jedoch mit unserer heutigen Situation nichts mehr zu tun haben. An das Christentum kann man heute einfach nicht mehr glauben. Dass Schnädelbach das so sieht, scheint klar, aber hat er auch recht? Kann man heute im Ernst nicht mehr an Gott glauben? Wer sich entschlossen hat, nicht zu glauben, mag seine guten Gründe haben, und wir werden seine Gründe achten, aber die eher objektive Behauptung, dass man heute nicht mehr glauben könne, ist schlichtweg falsch.

      Schnädelbach hat bei Th. W. Adorno studiert, zu einer Zeit, als die sogenannte Säkularisierungsthese in Mode war. Sie läuft darauf hinaus, dass unsere Kultur immer rationaler, diesseitiger wird. Das Religiöse verdunstet nach und nach und macht einer Rationalität Platz, die keinen Sinn mehr für Transzendenz hat. Aber diese Säkularisierungsthese ist gescheitert. Die Religion macht keinerlei Anstalten, zu verschwinden. Es ist auch nicht so, dass sie nur in der „Dritten Welt“ boomt, sodass die These zumindest für die westliche Welt wahr wäre. Je moderner, desto weniger religiös, so die Säkularisierungsthese.

      Das