§ 3 First things first!
Praxis und Reflexion des Glaubens
In der Theologie ist es am wichtigsten, sich frühzeitig die richtigen Fragen stellen zu lassen. Es sollten Fragen nach Basis und Kern des christlichen Glaubens sein. Wer am Anfang einer Beschäftigung mit dem Christentum seinen Vertretern die Frage stellt „Was glaubst du denn?“, wird wissen wollen, ob ihre Glaubenspraxis tatsächlich repräsentativ für das Christentum ist. Wird in dieser Praxis das, was für das Evangelium konstitutiv ist, authentisch bezeugt und gelebt? Wer darauf antworten will, wird zugleich jene Quellen und Erkenntniswege angeben müssen, von denen her man eine bestimmte Praxis mit Fug und Recht als genuin christlich oder als für den christlichen Glauben konstitutiv behaupten kann. Damit sind aber noch nicht alle Zweifel ausgeräumt: „Wie kommst du eigentlich darauf?“ Auf eine solche Nachfrage ist auch anzugeben, warum diese Quellen und Erkenntniswege für zuverlässig gehalten werden: „Was macht dich dabei so sicher?“ Und schließlich werden auch Kriterien und Verfahren zu nennen sein, anhand deren Skeptiker die Stringenz der Herleitung von Einsichten über Gott und die Welt auf den Prüfstand stellen können: „Wie begegnest du den Zweifeln an der Schlüssigkeit deiner Argumentation?“
Wendet man die Regel „first things first“ auf die Methodik der Theologie an, so ist mit einer Auskunft über das Elementare und Essentielle des Christseins zu beginnen. Auf die Frage „Was glaubst du denn?“ wird dann zu antworten sein: Die Grundbotschaft des Evangeliums besagt, „daß es die wesentliche Bedeutung der Geschichte Jesu ausmacht, der Erweis der unbedingt für den Menschen entschiedenen Liebe Gottes und als solcher Gottes Selbstoffenbarung zu sein“35. Dieses Grunddatum des christlichen Glaubens gilt auch als Grundprinzip und Grundwahrheit der christlichen Theologie. Wie alle übrigen Glaubensaussagen diese Basis voraussetzen, muss diese Grundbotschaft aber auch je neu in andere Kontexte übersetzt werden. Nur so kann sie jeweils in ihrer Bedeutung verstanden und in ihrer ganzen Tragweite erfasst werden.
Allerdings ist bereits an diesem Punkt mit der Frage zu rechnen, was Theologie und Glaubende so sicher macht, ausgerechnet mit dieser Aussage den Kern der christlichen Botschaft zu erfassen. Kann es nicht sein, dass auch sie zu jenen Übermalungen gehört, die man am Gottesbild Jesu vorgenommen hat? Ist nicht auch diese Aussage ein später dogmatischer Reflex einer Jesus von Nazareth zugeschriebenen Gottergriffenheit? Woher nimmt man die Sicherheit, mit dieser Aussage etwas zu benennen, das für den christlichen Glauben zentral und nicht marginal ist? Würden tatsächlich alle Christen dieser Aussagen zustimmen? Müsste man nicht auch alternative Bestimmungen des genuin Christlichen in Erwägung ziehen und auch mit ihnen den Test machen, ob sie in allen christlichen Konfessionen zum Glaubenskonsens gehören?
So berechtigt diese Fragen sind, so abwegig fallen sehr rasch alle Antwortversuche aus, die einen quantitativen Abgleich von Glaubenssätzen verschiedener Konfessionen vornehmen wollen, auf diesem Weg ein Maximum vom Minimum gemeinsamer Überzeugungen ermitteln und dies als Basis weiterer Auslegungsversuche des Evangeliums betrachten. Ein solches Vorgehen garantiert nicht, dass man dabei erfasst, was wirklich essentiell und konstitutiv für das Christentum ist. Ein minimales Maximum kann auch für eher marginale Überzeugungen festgestellt werden. Ein bloß statistischer Ansatz führt auch dann nicht weiter, wenn man demoskopisch ermitteln wollte, was die meisten Christen als für ihren Glauben unaufgebbar und wesentlich erachten.36 Solche Auflistungen sind nur dann belangvoll, wenn sie zu erkennen geben, anhand welcher Kriterien jeweils ein entsprechendes „Ranking“ vorgenommen wurde. Wenn es auf das Setzen von Prioritäten ankommt, ist aber vorab zu klären, was jeweils als Maßstab der Prioritätensetzung in Betracht kommt. Woran soll man sich orientieren, wenn man sich orientieren will? Welche Prioritäten muss man setzen, wenn man auf der Suche nach Prioritäten ist?37
Eine erste Möglichkeit besteht darin, sich an bereits vorliegenden Prioritätensetzungen zu orientieren. Allerdings scheint diese Möglichkeit nicht zu bestehen, wenn es um die Klärung dessen geht, was es in Wahrheit und in Wirklichkeit verdient geglaubt zu werden. Denn Aufteilungen von Glaubenswahrheiten in Ranglisten lassen sich mit den klassischen Konzepten von Wahrheit nicht anstellen:38 Der „griechische“ Wahrheitsbegriff ist primär an der Erkenntnis orientiert und bezeichnet mit „wahr“ die Eigenschaft von Aussagen, die einen gegebenen Sachverhalt adäquat wiedergeben. Der biblische Wahrheitsbegriff bezeichnet mit „wahr“ eine besondere Verfassung eines Dings oder Menschen bzw. einen Wesenszug Gottes. Als „wahr“ gilt, worauf man sich verlassen kann, worin man Stand gewinnt, weil es selbst das Beständige, über die Zeiten hinweg Verlässliche ist. In beiden Versionen regieren die Kriterien der Universalität. Was wahr ist, gilt für alle – ohne Ansehen der Person, immer und ausnahmslos. Hier gibt es keine Abstufungen. „Halbe“ Wahrheiten kommen streng genommen nicht in Frage. Wer die Wahrheit halbiert, verschweigt die ganze Wahrheit oder ersetzt das Verschwiegene durch Unwahres. Das Adjektiv „wahr“ benötigt keine Steigerungsform und wer „beinahe“ die Wahrheit sagt, sagt eben noch nichts Wahres. Die Grammatik lässt solche Satzbildungen zwar zu, aber die Semantik dementiert sie. Für die Wahrheit gilt die Logik des „entweder / oder“. Sie kennt keine Mittelwerte, keine Kompromisse, kein „sowohl / als auch“. Wer von einer Abstufung oder Rangfolge von Wahrheiten spricht, setzt offensichtlich in einen Plural, das es nur im Singular gibt.
Unter dieser Rücksicht verlangt die Regel „first things first“ die Anwendung der Unterscheidung „wahr / verlässlich / tragfähig versus unwahr / unzuverlässig / untragbar“ auf religiöse Sinnofferten. Dies ist kein Maßstab, der religiösen Traditionen wesensfremd ist. Zugleich aber ist er zureichend neutral, um auch in philosophischen Diskursen anwendbar zu sein. Nur solche Sinnofferten verdienen Beachtung, die eine verlässliche Orientierung in existenziellen Grund- und Grenzsituationen in Aussicht stellen. Will man anhand dieses Kriteriums das für das Christentum Essentielle benennen, lässt sich in Anknüpfung an das biblische Wahrheitsverständnis als Fundament des Glaubens nur jenes Beständige und Verlässliche ausmachen, dem sich der Mensch im Leben und Sterben anvertrauen kann. Damit kommt wieder in den Blick, wovon eingangs bereits die Rede war: die Anteilhabe am Gottes- und Menschenverhältnis Jesu, das auch der Tod nicht aufheben kann – die Übersetzung von Gottes Welt- und Menschenverhältnis in zwischenmenschliche Entsprechungsverhältnisse – der Vollzug unbedingter Zuwendung in und mit der Koinzidenz von Gottes- und Nächstenliebe.39
Eine Theologie, welche diesen Erkennungszeichen des Christseins Priorität gibt, kann zwar im Blick auf die Praxis und Reflexion des Glaubens unterscheiden, was den Glauben konstituiert und was ihn expliziert. Aber mit der Identifizierung einer für das Christentum repräsentativen Überzeugung, die zugleich das für den Glauben konstitutive Charakteristikum erfasst, ist noch nicht geklärt, ob es für diese Überzeugung wiederum überzeugende Gründe gibt und wie man sich dieser Gründe vergewissern kann. Wie gewinnt man heute einen Zugang zur Praxis Jesu, mit der die Übersetzung von Gottes Weltverhältnis in die Sphäre der Intersubjektivität verbunden sein soll? Welche Übersetzungen dieser Praxis stehen heute zur Verfügung, um sich ihres Geltungsanspruchs vergewissern zu können? Wie ist sicherzustellen, dass es sich dabei um authentische Übersetzungen eines Originals handelt?
§ 4 Form follows function!
Maß und Ziel theologischer Reflexion
Was die Theologie inhaltlich zu leisten hat, bestimmt auch Format und Status, Maß und Ziel ihrer Reflexionen: Ihr Gegenstand ist die Rede von der in Jesus Christus Gestalt und Ereignis gewordenen Übersetzung von Gottes Selbstverhältnis unbedingter Zuwendung in zwischenmenschliche Entsprechungsverhältnisse. Als