Um das existenzielle Bezugsproblem des Glaubens zu erörtern, bietet sich als Einstieg eine etymologische Rückfrage an. Im Wurzelwerk der Sprache finden sich oft grundlegende Einsichten und bis heute unabgegoltene Sichtweisen. Geht man nun dem Wort „glauben“ in den biblischen Sprachen nach, so zeigt der hebräische Wortstamm נמא, dass der (religiöse) Glaube durchaus ein Projekt verfolgt, das auch die Vernunft antreibt: Es geht um ein Verhältnis zur Wirklichkeit, das ihr auf den Grund geht.5 Anders als bei den in der Neuzeit dominierenden Formaten einer instrumentellen und zweckrationalen Vernunft handelt es sich beim (religiösen) Glauben jedoch nicht um ein „Verfügungswissen“, das angestrebt wird. Er will die Welt nicht begreifen, um das, was in der Welt geschieht, in den Griff zu kriegen und aus bisher unverfügbaren Umständen menschlichen Daseins nun Folgen und Ergebnisse seines Handelns zu machen. Vielmehr ist er an einem spezifischen „Verständigungswissen“ interessiert, d. h., er will herausfinden, was es letztlich mit der Wirklichkeit im Ganzen auf sich hat und ob ihr eine Bedeutsamkeit zukommt, die über die reine Faktizität hinausgeht.6 Im Zentrum steht die Frage, ob in einer Welt, in der alles im Fluss ist, etwas erkennbar wird, worin der Mensch einen festen Halt findet. Woran kann man sich halten in einer Zeit, in der nichts auf Dauer Bestand hat? Gibt es für den Menschen etwas Bleibendes angesichts einer Welt, die selbst nicht bleibt?
Konstitutiv für eine religiöse Einstellung zur Wirklichkeit ist demnach das „Aus-sein“ auf einen Sinngrund des Daseins, von dem her man „Selbststand“ gewinnen kann im Unbeständigen: Zeigt sich angesichts einer vergänglichen Welt etwas, auf das man sich verlassen kann im Leben (und im Sterben)? Gibt es etwas Beständiges, von dem her man zu sich selbst stehen und anderen Menschen beistehen kann? Falls nicht, was befähigt den Menschen, mit den Ungewissheiten, Unsicherheiten und Aporien des Lebens umzugehen? Wie hält man es aus, wenn letztlich auf nichts in der Welt Verlass ist?
Bereits die Etymologie des Wortes „glauben“ relativiert die häufig antreffbare Aussage, der (religiöse) Glaube sei eine Defizitform von Wissen.7 Eine solche Aussage offenbart ein Halbwissen und ein Wissensdefizit. Der Glaube verfügt in der Tat nicht über ein technisch-instrumentelles Wissen, mit dem die Wirklichkeit beherrscht werden kann. Er konkurriert nicht mit der Vernunft bei der Suche nach einem Wissen darüber, was in der Welt geschieht, und was man mit diesem Wissen machen kann. Vielmehr will er verstehen, was es mit der Welt auf sich hat und wie man damit umgeht, wenn die Vernunft bei dieser Erkundigung nur Fehlanzeigen erstattet. Der Glaube repräsentiert insofern seinerseits ein „Defizitwissen“. Denn er weiß zum einen um das, was dem Menschen fehlt: Beständigkeit im Unbeständigen, Halt angesichts des Haltlosen. Zum anderen weiß er um die Defizite einer technisch-instrumentellen und zweckrationalen Vernunft hinsichtlich dieser existenziellen Herausforderung.8 In der Folge eines solchermaßen aufgeklärten Nichtwissens sucht er nach einem anderen Zugang zu dem, was dem Menschen fehlt, um zu sich stehen zu können. Diese Suche wird geleitet von der Hoffnung, dabei auch an ein Ziel zu gelangen (vgl. Hebr 11,1: „Glauben heißt: sich festmachen in dem, was man erhofft“). Dabei geht es nicht um vage Vermutungen über ein gutes Ende des Daseins, sondern um eine Ermutigung, mit den Härten und Nöten des Lebens so umgehen zu können, dass man angesichts des Inakzeptablen an und im Leben dieses Leben dennoch annehmen und bejahen kann. Sich auf eine solche Lebenspraxis zu verstehen erfüllt sich im „Standgewinnen“, in der Bezugnahme auf etwas Beständiges, wodurch man existenzielles „Stehvermögen“ erwirbt (vgl. Jes 7,9: „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht“).
Glaube und Vernunft ist gemeinsam, dass sie sich der Wirklichkeit stellen. Dabei praktiziert der Glaube zwar eine andere Einstellung als die technisch-instrumentelle Vernunft. Aber ihm ist kein prinzipielles Intelligenzdefizit anzukreiden. Er präsentiert kein ungesichertes Wissen, sondern will wissen, wie man mit Unsicherheiten umgeht. Er überredet nicht dazu, Beliebiges für wahr zu halten, sondern prüft, woran man sich in Wahrheit halten kann. Er zielt nicht auf das Unbezweifelbare, sondern auf das, womit man alles Zweifeln erträgt.9 Wer mit solchen Absichten nach einer angemessenen Einstellung gegenüber den Wechselfällen des Lebens sucht, kann es mit jedem philosophischen Ideal von Weisheit und Lebenskunst aufnehmen.10 Hier fällt der Vorwurf mangelnder Intelligenz zurück auf den, der ihn erhebt.
Glauben heißt nicht: nicht(s) wissen. Vielmehr zeichnet ihn die Nähe zu einer Größe aus, der man ebenfalls oft unterstellt, sie sei ein Widerpart des Wissens: die Skepsis. Aber ebenso wie der Glaube kein Doppelgänger des Unwissens ist, so ist die Skepsis keine Verwandte des Unglaubens. Beide sind auf Wissbares aus: die Skepsis im Modus des „spähenden Umherblickens“ und der Glaube im Modus der prüfenden Hoffnung. Beide kommen gut miteinander aus. Die Skepsis bewahrt den Glauben davor, leichtsinnig zu werden, und die Hoffnung bewahrt die Skepsis davor, im Argwohn zu enden.11
Anliegen und Ziel einer Theologischen Epistemologie sind
• die Herausarbeitung der dem Glaubensvollzug als Suche nach den Sinnbedingungen menschlichen Daseins eigentümlichen Intelligenz,
• die Ermittlung der den Glaubensinhalten zukommenden existenziellen Relevanz,
• die Rekonstruktion der Plausibilität von Vollzug und Gehalt des christlichen Glaubens,
• die Begründung der Validität von Quellen und Methoden, die für den Intelligenz-, Relevanz- und Plausibilitätsnachweis des Glaubens zu beachten bzw. einzusetzen sind.
§ 2 Distanzierungen: Sich Gott zuwenden – abseits des Menschen?
Für eine genuin theologische Erkenntnistheorie ist mit dem Hinweis auf das existenzielle Bezugsproblem des Glaubens zwar eine grundsätzliche Möglichkeit gegeben, ihn vom Verdacht einer dem Menschen unzumutbaren Einstellung zur Wirklichkeit zu entlasten. Denn ihm kommt insofern eine unabweisbare Berechtigung zu, wie er sich für eine unabweisbare existenzielle Herausforderung interessiert. Damit ist aber noch nicht erwiesen, dass jene Bezugsgröße, von der er sich Stehvermögen, Halt angesichts des Haltlosen und Beständigkeit im Unbeständigen erhofft, auch tatsächlich von ihm erreicht werden kann – erst recht, wenn damit jene Wirklichkeit gemeint ist, für die in religiöser Sprache das Wort „Gott“ steht: Auf welche Weise ist es möglich, eine Beziehung zu dieser Wirklichkeit aufzubauen, auf die man sich unbedingt verlassen kann? Welche Richtung soll man einschlagen, wenn man sich dieser Wirklichkeit nähern will?
Häufig antreffbar und auch in existenziellen Angelegenheiten offenkundig gut erprobt sind Arrangements, die auf einer vertikalen Achse Verbindliches und Beliebiges, Vordringliches und Vernachlässigbares sortieren. Hier werden von unten nach oben aufsteigend Rang und Namen aufgelistet, Kompetenzen verteilt, Macht und Ansehen zugesprochen. „Oben“ ist, was Anspruch auf Anerkennung erheben darf. „Unten“ ist das Vernachlässigbare und Bedeutungslose. Auf den ersten Blick scheint ein solches Vorgehen anthropologisch berechtigt und theologisch aussichtsreich zu sein. Schließlich gilt der Mensch als das „Wesen der Transzendenz“ bzw. als resonanzfähig für eine „transzendente Wirklichkeit“12 und dass sich die Wirklichkeit des Göttlichen auf einem Aufstiegsweg finden lässt, spiegelt sich als Grundüberzeugung in vielen religiösen Zeugnissen nicht nur der monotheistischen Religionen.13
1. Religiöse Vertikalorientierungen:
Nach Höherem streben – Gott finden?
Gibt man etwas auf die Selbstdeutungen des Menschen, so sieht er sich auf einem Aufstiegsweg – und als Emporkömmling. „Griechischer Etymologie zufolge ist der Mensch der Aufrechte. Sein Name anthropos stammt vom Verb anatrepein: etwas in die Höhe bringen, emporheben“14, etwas aus der Waagrechten in die Senkrechte versetzen. Das Selbstverständnis des Menschen scheint sich ebenfalls an der Vertikalachse auszurichten: Menschen sind Aufsteiger – Wesen, die hoch hinauswollen und obenauf sein wollen. Erst wenn sie eine Höchst- oder Bestform erreichen, sind sie zufrieden. Um nach oben zu kommen, muss man sich auf die Hinterbeine stellen. Erst wer auf eigenen Füßen steht, hat sich selbständig gemacht (und ist ein Autostatiker). Um