Allerdings ist mit dieser Festlegung ein beträchtliches Folgeproblem verknüpft: Wie kann man den Anspruch heute einlösen, dass mit dem Leben und Sterben Jesu von Nazareth das Ereignis der Offenbarung von Gottes Zuwendung zum Menschen in der Geschichte verbunden ist? Wie kann man aufzeigen, dass dieses Ereignis geschichtlich unüberholbar ist?
Die erste Teilfrage ist nicht mit einer historischen Retrospektive beantwortbar. Denn selbst wenn es gelingen sollte, auf historisch-kritischem Weg die Besonderheit Jesu z. B. an seinen Wundern festzumachen, ihm übermenschliche Fähigkeiten zu attestieren oder ihm ein göttliches Sendungsbewusstsein nachzuweisen, was seinen Zeitgenossen Grund genug gewesen sein mag, ihn als Mittler einer Offenbarung Gottes zu erkennen, wäre damit wenig gewonnen. Gründe, die nur den Zeitgenossen Jesu zugänglich und verifizierbar waren, um eine solche Annahme zu stützen, können nicht hinreichend sein, um heute zu demselben Schluss zu kommen. Mit der Berufung auf eine heute nicht mehr zugängliche Erfahrung der Zeitgenossen Jesu, die ihn als „Wort Gottes in Person“ legitimierte, lässt sich auch die zweite Teilfrage nicht beantworten. Dies gilt erst recht, wenn für die Selbstvergegenwärtigung Gottes in Jesus von Nazareth materiale und formale Unüberbietbarkeit behauptet wird. Formal unüberbietbar soll dieses Geschehen sein, weil anders oder besser als im Format unbedingter Zuwendung das Menschenverhältnis Gottes nicht offenbar werden kann. Material unüberbietbar soll es sein, weil dem Menschen von Gott nicht mehr zuteilwerden kann als eine Zuwendung, die ihn im Leben und im Sterben trägt.
Mit dieser doppelten Problemanzeige rückt die Kernfrage einer Topologie des christlichen Glaubens ins Blickfeld: Wie ist es möglich, einem Ereignis der Vergangenheit zu einer Realpräsenz in der Gegenwart zu verhelfen, so dass es heute (und auch in Zukunft) bei jenen ankommt, die nicht zu den ursprünglichen Augen- und Ohrenzeugen der Verkündigung Jesu zählen? An der Lösbarkeit dieser Frage hängt die Möglichkeit, über die Zeit hinweg die Antreffbarkeit und Authentizität einer als „Wort Gottes“ behaupteten Botschaft wahren zu können. Aber bereits als Problemanzeige ist diese Frage von erheblicher kriteriologischer Bedeutung:
Damit eine Botschaft als „Wort Gottes“ verstanden werden kann, muss sie von sich aus die Möglichkeit einer „zeitversetzten Gleichzeitigkeit“ mit dem geschichtlichen Ereignis der Offenbarung dieses Wortes Gottes eröffnen.
3. Partituren des Glaubens:
Evangelium – Tradition – Bekenntnis
Die christliche Theologie gerät unweigerlich in erhebliche Verlegenheit, wenn sie von der geschichtlichen Selbstvergegenwärtigung Gottes in Jesus von Nazareth spricht und für dieses Geschehen das Merkmal der Unüberbietbarkeit beansprucht. Dieser Anspruch ist verbunden mit einem partikularen Ereignis in der Vergangenheit: das Leben und Sterben Jesu von Nazareth und die Nachricht von seiner „Auferweckung“. Wenn nun diese Ereignisfolge den Grund des Glaubens ausmacht, ergibt sich das Problem, wie in der Gegenwart noch eine Begründung dieses Glaubens möglich sein kann, wenn dieser Grund dem Glaubenden im zeitlichen Sinne entzogen ist. Ein weiterer Einwand ergibt sich aus dem neuzeitlichen Geschichtsverständnis. Es dominiert die evolutive Vorstellung einer ungerichteten Vorwärtsbewegung, die keine Mitte und kein Ziel kennt. Jedes Ereignis ist nur Episode. Das Frühere wird relativiert vom Späteren. Alles wird im Lauf der Zeit veralten, nichts ist ausgenommen vom Prozess der Überbietung des Überkommenen durch das Kommende. Die Zeit und alles Zeitliche gehen aber nicht auf ein bestimmtes Ziel zu.61 Wie die Zeit selbst vergeht, so geht mit ihr auch alles dahin, was in der Zeit geschieht. Wenn etwas an der Zeit sein will, so muss es präsent sein und seine Präsenz auf Dauer stellen können.
Für das Christentum ergibt sich daraus die Herausforderung, das (vergangene) Ereignis einer Selbstvergegenwärtigung Gottes in der Zeit jeweils neu zu vergegenwärtigen. Denn nur wenn es möglich ist, trotz des zeitlichen Abstandes zum historischen Grundgeschehen der Offenbarung eines „Wortes Gottes“ mit diesem Geschehen ‚gleichzeitig‘ zu werden, ist die Annahme dieser Botschaft verantwortbar. Nur dann kann man nämlich der christlichen Botschaft (Evangelium) selbst auf den Grund gehen, um darauf den eigenen Glauben zu gründen. Lösbar wäre dieses Problem, wenn eine Vergegenwärtigung dieses Grundgeschehens der vergangenen (und historisch einmaligen?) Selbstvergegenwärtigung Gottes gelingen könnte. Wenn nun in ferner Vergangenheit die Zeitgenossen Jesu mit seiner Person und Botschaft eine Gotteserfahrung im Modus unbedingter Zuwendung gemacht haben, wie ist dann diese Erfahrung tradierbar, wenn in der Gegenwart die personale Begegnung mit Jesus von Nazareth nicht mehr möglich ist?
Das Problem der „Ungleichzeitigkeit“ wäre leicht zu bewältigen, könnte man das Geschehen der Offenbarung als Mitteilung einer Information verstehen. Hierbei kann der Inhalt des einst Mitgeteilten weitergegeben werden, ohne den ursprünglichen Akt der Mitteilung wiederholen zu müssen. Anders verhält es sich, wenn der Inhalt der Offenbarung mit ihrem Akt koinzidiert. Dann ist es unabdingbar, zu diesem Akt Zugang zu erhalten. In diesem Fall muss dieser Akt reaktualisiert werden können. Wenn die Offenbarung Gottes in Jesus von Nazareth bestimmt ist durch die Koinzidenz von Vollzug und Gehalt unbedingter Zuwendung, dann kann es eine Weitergabe und Vergegenwärtigung dieser Offenbarung nur geben, wenn diese Koinzidenz tradiert werden kann. Denn wenn das Welt- und Menschenverhältnis Gottes ein Verhältnis unbedingter Zuwendung ist, dann kann außerhalb eines Vollzuges unbedingter Zuwendung dieses Verhältnis weder offenbar noch vergegenwärtigt werden. Auch Jesus von Nazareth hat in seinem Welt- und Menschenverhältnis das Menschenverhältnis Gottes derart vergegenwärtigt, dass er es praktizierte. Für das Ursprungsgeschehen von Offenbarung wie für dessen Vermittlung gilt somit: Vollzug und Gehalt sind nicht voneinander ablösbar, wenn das Geschehen unbedingter Zuwendung vergegenwärtigt werden soll. Außerhalb seines Vollzuges kann es für diesen Gehalt keine Realpräsenz geben.
Von der Ermöglichung einer zeitversetzten Gleichzeitigkeit mit dem Ursprung des Glaubens hängt auch die Sicherung der Identität und Authentizität seiner Weitergabe ab. Hierzu bedarf es offensichtlich einer diachronen Kontinuität: Lässt sich die Distanz zwischen „damals“ und „heute“ überbrücken, wenn es ein Kontinuum zwischen Vergangenheit und Gegenwart gibt? Ein solches zeitliches Kontinuum könnte mit einem sozialen Kontinuum verbunden sein – in Gestalt einer ungebrochenen Überlieferung der Offenbarung Gottes in der Gemeinschaft jener, die an diese Offenbarung glauben.
Die Prüfung, ob eine Botschaft als „Wort Gottes“ verstanden werden kann, hängt ab von der Möglichkeit, sich über ein zeitliches (diachrones) Kontinuum des geschichtlichen Ursprungs dieser Botschaft und ihrer authentischen Vergegenwärtigung vergewissern zu können.
In der katholischen Theologie und Kirche hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass das zeitlich-soziale Kontinuum der Vergegenwärtigung von Gottes Selbstoffenbarung durch die Größen Schrift – Tradition – Lehramt gewährleistet wird. Sie sind Instanzen der Weitergabe des Wortes Gottes (Evangelium) bzw. der Überlieferung und Vermittlung des Glaubens(grundes) zu beständiger Gegenwart.62 Allerdings stellt sich damit erst recht das eingangs bereits angesprochene Legitimationsproblem: Wie lässt sich der Anspruch rechtfertigen, dass diese Größen tatsächlich die authentische Weitergabe des Glaubens sichern können? Gibt es im Blick auf den in der Theologie- und Kirchengeschichte immer wieder aufbrechenden Biblizismus, Traditionalismus und Dogmatismus nicht genügend Gründe für die Annahme, dass diese Größen das Evangelium von der unbedingten Zuwendung Gottes zum Menschen eher entstellt und den Zugang zu ihm verstellt haben? Durchzieht nicht auch die „Heilige“ Schrift ebenso wie die Geschichte der Menschheit eine Blutspur der Gewalt, welche die