2. Wir hören auf unsern Kanzeln allzuwenig die Homilien.28 Da das Göttliche im Christentum historisch gegeben ist, ist eine Orientierung an der Heiligen Schrift unerlässlich. Mit der Quelle der Offenbarung werden die Christen die Offenbarung selbst liebgewinnen29. Voraussetzung dafür ist eine Exegese, die die geistig-praktische Seite nicht vernachlässigt30.
3. An die Stelle einer allzu objektiven, abstrakten Allgemeinheit hat eine Predigt zu treten, in der das wirkliche Leben der Hörer zum Zug kommt, konkrete Themen behandelt werden31.
Lüft wandte sich gegen eine Einschränkung des Seelsorgers auf den Morallehrer und gegen eine rein vernunftorientierte Predigt, das nur Gemütvolle lehnte er ebenso ab. Hielt er mit der Ausrichtung an der Heiligen Schrift eine zentrale Forderung der Aufklärung aufrecht, so beklagte er doch die Vernachlässigung der Glaubensinhalte. Wenig später betonte Lüft, dass jetzt bei der Restauration des christlichen Sinnes und Lebens oder bei dem Streben, beides festzuhalten und tiefer zu begründen, die frühere bei weitem noch nicht ganz verklungene Weise unsers Predigtwesens nicht mehr befriedigen könne und dass über den Prediger unsrer Tage aufs neue jene frische Glut urchristlicher Begeisterung kommen müsse, um dem Göttlichen seine Herrschaft wieder zu erringen oder zu behaupten, um den Genius des Christentums und der Menschheit wieder zu versöhnen und den Leib Christi, der durch den Leichtsinn und die Unbilden der Zeit vielfach verunstaltet worden, wieder neu und lebendig aufzubauen32.
Einen ähnlich grundlegenden Aufsatz wie zur Homiletik lieferte Lüft für die Liturgik. In seinen „Prinzipien über Cultus und Liturgie“33 fordert er eine theoretische Verankerung der Liturgie, zumal den in der Praxis vollzogenen liturgischen Reformen keine grundsätzlichen Überlegungen vorausgingen und auch die Reformgegner sich solcher enthielten34. Den Begriff des Cultus bestimmt er als Vereinigung des Menschen mit Gott und dem Göttlichen, vermittelt durch entsprechende Zeichen35. Dem Kultus kommt ein latreutischer, ein kirchlicher, ein ethischer und ein sakramentalischer Zweck zu36. Als eigentliches Tätigkeitselement des Cultus sieht Lüft das Gefühl an, das die Kultformen bestimmt37, die aber ebenso der dogmatischen Wahrheit entsprechen müssen; dabei fordert Lüft, die fromme Volksmeinung nicht zu vernachlässigen38. Der Liturge muss vom Geist der Religion und Andacht ergriffen sein.39 Auch in seinen liturgiewissenschaftlichen Prinzipien verweigerte sich Lüft bloßer Rationalität und mühte sich um eine ganzheitliche Ausrichtung. Vergleichbare Überlegungen bot er in seiner Rezension der „Liturgik der christkatholischen Religion“ von Franz Xaver Schmid (1800–1871), deren fehlende wissenschaftliche Grundlegung er bemängelte. Lüft betonte das Verdienst der neuern Zeit, das darin lag, zu dem alten archäologischen Stoffe Seele und Gemüt hinzuzubringen, in demselben den Geist und die christlichen Ideen aufzusuchen, den Cultus als die eigentliche plastische Poesie des religiösen und christlichen Lebens zu begründen40. Den Cultus nur von Seiten seines moralischen Nutzens aufzufassen, blieb in seinen Augen eine unsachgemäße Reduktion auf einen der vielen Zwecke41. „Kirchlichkeit“ wird als entschiedenes Anliegen des Gießener Professors fassbar – und Wissenschaftlichkeit. Mit seiner in den vierziger Jahren erschienenen „Liturgik“ löste Lüft schließlich selbst die Forderung nach einer wissenschaftstheoretischen Grundlegung der Liturgie ein.
Nach der Beschäftigung mit der Pastoraltheologie wandte sich Lüft dem zweiten Fach zu, das er in Gießen zu vertreten hatte, und veröffentlichte den Aufsatz „Über Konstruktion und Behandlung der theologischen Moral“42. Lüft erstrebte die Befreiung der Moraltheologie aus dem Formalismus und ihre Umbildung nach einer reinern und christlich-eigentümlichern Idee43. Auf einem Gang durch die Geschichte der Moral anerkannte Lüft zwar, dass Kant in Einzelnem um die Sittenlehre große Verdienste hat, tadelte aber die absolute Trennung der Moral von der Religion als eines der wesentlichsten und einflußreichsten Gebrechen der Kantischen Sittenlehre44. Auch hier wehrte sich Lüft gegen rationalistische Verengungen. Versuche, die Moral nur anthropologisch zu fundieren, galten Lüft als misslungen; der menschliche Geist erscheine dabei oft wie ein Automat, während der Verstand den allherrschenden Spiritus rector machte45. Die innere, organische Einigung des Sittlichen mit dem Religiösen machte Lüft zur Grundlage seiner Moraltheologie46. Die Idee der sittlichen Selbstvervollkommnung gewinnt Gestalt nicht im bloßen Entsprechen der menschlichen Natur, sondern im Über-sie-Hinausstreben. Die Heilige Schrift, die Glaubenslehre und das Leben Jesu liefern dazu die sittlichen Bestimmungsgründe und Triebfedern. Lüfts christlich-sittliches Prinzip lautete daher: Strebe, zur Erreichung deiner eigenen Bestimmung (deiner Verähnlichung mit Gott oder der eigentümlichen Entwickelung und Vervollkommnung deines Geistes) den göttlichen Willen, wie derselbe in der Lehre und dem Leben Christi geoffenbart ist, aus freier Liebe und nach deinem ganzen Kraftmaße zu erfüllen.47 Einer bloßen Ableitung der Moral aus der Dogmatik erteilte Lüft eine Absage; er konzipierte das Verhältnis in einem Dreischritt: Die Moral macht die gläubige Aufnahme der religiösen Wahrheit zur Pflicht, nach ihrer Rezeption kann die spezielle Ethik ausgebildet werden48. Lüft verstand die Zeit, in der er lebte, als Phase des Umbruchs. Die Orientierung an der christlichen Botschaft war dabei der einzige Weg, um eine Neuordnung zu erreichen. Soll unsere Generation noch einmal zu einem tiefern und geheiligtern Leben erwachen, soll Gott im Leben der Menschheit wieder Raum und das kirchliche wie Staatsleben wieder tiefern Gehalt und festere Basis gewinnen, so müssen vor allem Kirche und Staat wieder in ihren Wurzeln und tiefern Grundlagen gesunden und stark werden, das heißt, der Genius des Christentums muß wieder das eheliche und Familienleben (und die christliche Erziehung) begeistern, durchdringen und heiligen.49
In seiner Darmstädter Zeit erschien Lüfts wissenschaftliches Hauptwerk, die ersten beiden und leider einzigen Bände seiner „Liturgik oder wissenschaftliche Darstellung des katholischen Kultus“50, in denen die allgemeine Liturgik behandelt wurde. An der Bearbeitung weiterer Bände, die der speziellen Liturgik gewidmet sein sollten, scheint Lüft durch seine pastoralen Aufgaben gehindert worden zu sein. Dem Werk wurde eine bahnbrechende Wirkung beigemessen. Lüft war der erste, welcher der Liturgik ein streng wissenschaftliches Gepräge gab.51 Das Werk fußte auf Lüfts Gießener Vorlesungen52. Dabei mühte er sich um eine heilsgeschichtliche Grundlegung des Kultus. Der Grundgedanke des christlichen Glaubens und Lebens ist die Erlösung durch Christus53. Anteil an der Erlösung gewinnt der Mensch durch seine Lebensgemeinschaft mit Christus, vornehmlich in der Feier der Eucharistie. Das erlösende Tun Christi wird von der Kirche fortgesetzt, in ihr empfangen alle die Mitteilung des in Christus ruhenden göttlichen Lebens54. Die Kirche ist eigentlich der durch alle Zeiten erscheinende, fort und fort erlösende Christus selbst55. Lüft definiert den Kultus als die Gesamtheit der heiligen Handlungen und Formen, durch welche das religiöse Verhältnis einer Gemeinschaft oder ihrer einzelnen Glieder zur Gottheit und der Gottheit zur Gemeinde unmittelbar dargestellt und vermittelt wird56. Die Priester sah Lüft dabei als wirkliche Träger und Leiter des Lichtes und der Gnade, wirkliche Mittler zwischen Gott und den Menschen57, zwar gebe es eine Unterscheidung zwischen Priestertum und Volk, doch beide bestehen neben einander als eine organische, sich gegenseitig bedingende und durchdringende Einheit. Die Gemeinde wird ausdrücklich als Mitgestalterin der Liturgie genannt. Er anerkennt den Wert der in der Aufklärungszeit entstandenen deutschen Volksliturgien, beklagt aber den kalt dozierenden, flach moralisierenden Geschmack vieler Schöpfungen dieser Zeit58. Den Verlust des Chorals, der nur noch in den Kathedralen anzutreffen sei, beklagt er59. Als Ministranten wünscht er sich Kleriker oder gebildete Laien; denn die oft ganz rohen Knaben aus der untersten Volksklasse störten seines Erachtens die Würde des Gottesdienstes durch das geräuschvolle, bauernhafte Auftreten, das dummstolze Sichgeltendmachen, das haltungslose Hin-