Schon das „Guten Morgen“ hatte eine sanfte Stimme verraten, die jetzt das Startzeichen zur Messe gab. Mit einem Kreuzzeichen verließen wir die Sakristei. Ich zog das Türglöcklein und die Orgel brauste auf. Die Messe war wie immer im Kapellchen ausgezeichnet besucht. Selbst unter der Orgelempore standen zahlreiche Leute, die in der letzten Minute gekommen waren. Zu spät kommen war üblich. Daraus folgte ein zu früh gehen. Säuselnd las der Pater das Evangelium. „Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen.“
Dann begann er seine Predigt, ähnlich leise, ohne der Stimme Druck zu geben. Wie üblich hatte ich mich umgedreht, auf die Altarstufen gesetzt und wandte dem Prediger den Rücken zu. Dafür gewann ich den Blick auf die Gemeinde. Mir entging nichts. Jedes Zucken der Wimpern fiel mir auf. Jedoch nichts passierte. Der greise Pater holte weit aus und erzählte von der Ehe seiner Eltern und von seiner Kindheit. Manchmal stammelte er oder machte an den falschen Stellen Kunstpausen. Er war kein rhetorischer Draufgänger, der durch Geschrei die Aufmerksamkeit erregen wollte. Laut sein war nicht seine Stärke. Die Hörerschaft spitzte die Ohren, um möglichst alles mitzubekommen. Ich sah in konzentrierte Gesichter. Besonders aufmerksam wurde ich, als er berichtete, wie der Tod seine Eltern getrennt hatte. Er predigte von sich, ohne auf das Evangelium zurückzukommen. Herzbewegend erzählte der Geistliche, wie er sich damals gefühlt hatte. Als zehnjähriger Junge bekam er mit, dass in der Familie etwas in der Luft lag. Er spürte, wie der Vater sich mit dem Treppensteigen schwertat. Immer öfter hielt er an und rang nach Luft. Manchmal lauschte er an der Wohnzimmertür und schnappte sorgenvolle Gespräche auf. Irgendwann schnappte das Kind einen Satz auf, der ihm den Schlaf raubte. „Übrigens, ich war wieder bei meinem Arzt. Er hat kaum Hoffnung. Er weiß nicht mehr, was er mit meinem kranken Herzen machen soll.“ Das Kind verzog sich stumm in sein Zimmer. Denn er ahnte, er würde seinen geliebten Vater verlieren. Davor hatte er wahnsinnige Angst. Still warf er sich auf sein Bett und fing an zu beten, wie eben nur ein Kind beten kann. „Lieber Gott, ich habe Papa sehr lieb. Nein, ich will ihn nicht verlieren. Mach ihn gesund, bitte.“ Das kurze Stoßgebet wiederholte er mehrmals. Die Angst trieb ihn immer wieder an.
So sehr fürchtete er sich vor dem Tod des Vaters, dass er in die nächste Kirche rannte und vor dem Marienbild eine Kerze anzündete. Seine Oma hatte es ihm vorgemacht, bei Problemen die Mutter Maria um Rat zu fragen. Dabei sollte immer ein Kerzchen brennen. Darauf vertraute er jetzt, obwohl er keinen Pfennig für den Opferstock hatte. Die Mutter Gottes würde ihm den Kerzendiebstahl verzeihen. Seine Geschichte rührte alle an. Mehr und mehr merkte ich auf den kalten Stufen, wie meine Augen feucht wurden. Ich dachte an den kleinen Jungen, der sich damals auf seinem Bett die Augen ausweinte. Meine Tränen unterdrückte ich in der Hoffnung, dass der alte Pater bald an das Ende seiner Predigt kommen würde. Doch er erzählte weiter von sich und seiner kindlichen Angst. Ja, der Vater sei dann kurz danach gestorben. „Herzschlag!“, der Prediger schluckte. Dann sei er alleine bei seiner Mutter aufgewachsen. Trotz aller Mutterliebe habe er seinen Vater ein Leben lang vermisst. Mit verweinten Augen blinzelte ich in die Gemeinde. Die meisten hatten sich ein Taschentuch herausgeholt und wischten ihre Tränen ab. Andere blickten verstohlen auf den Boden. Keiner sollte bemerken, wie sie an Wasser gebaut hatten. Was ich später in einer Sonntagsmesse nie mehr erlebt habe – die Gemeinde weinte. Also durfte ich weinen, sogar ein wenig schluchzen, wie es viele in der Gemeinde heimlich taten. Die weinenden Menschen in der Kirche werde ich nie vergessen.
Ich bin dem Pater bis heute dankbar, dass er seine Kindheitsgeschichte erzählt hat. Gott hatte seine Eltern verbunden, aber auch willkürlich getrennt. Im Studium habe ich die dogmatischen Zusammenhänge über Gott, Tod und Ehe gelernt. Viel wichtiger war, dass der alte Geistliche die Menschen mitfühlen ließ, so stark, dass sie weinen konnten. Kirche ist eine Gemeinschaft von Menschen, die mitleiden, mitfühlen und dann mitweinen. Ich habe es erlebt.
Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen waren, war er im Innersten erregt und erschüttert. Er sagte: Wo habt ihr ihn bestattet? Sie antworteten ihm: Herr, komm und sieh! Da weinte Jesus. (Joh 11,33–35)
Die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt. Früher waren sie Kinder, dann wurden sie Erwachsene, aber was sind sie nun? Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch.
(Erich Kästner)
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