Insgesamt geht es nicht um Fragen, die mehr oder weniger leichtfertig zu beantworten sind. Dahinter stehen Schicksale, die Menschen zerstört haben. Das Zölibat ließ Priester zerbrechen. Ihre Frauen wurden mit ins Unglück gezerrt, und ihre Kinder leiden unter Umständen bis heute. Homosexuellen und wiederverheiratet Geschiedenen erging es in der Kirche ähnlich. Welcher Bischof zählt ihre Tränen, die sie geweint haben? Wer trocknet sie? Wer versucht in Zukunft zu verhindern, dass sie überhaupt weinen müssen? Vor meinen Augen spielten sich Katastrophen der Unbarmherzigkeit ab. Finanzielle Zuwendungen seitens der Generalvikariate halfen wenig, das Leid zu lindern. Hinter vorgehaltener Hand erzählen wir uns unter den Mitbrüdern diese Leidensgeschichten, und wir halten still. Letztlich ist alles gesagt oder geschrieben, was zu tun wäre, um die Schmerzen zu vermindern. Es tut sich wenig, im Gegenteil, gewisse Kreise versuchen die Kirche wieder abzuschotten und in die tridentinische Festung zurückzuführen.
Als alter Mitarbeiter weiß ich, was in unserer Kirche los ist, ohne dass ich je bei einer Dienstbesprechung des Bischofs mit seinem Generalvikar dabei war. Meine Kirche bietet manchmal ein trostloses Bild. Die Tatsache, dass kaum heute einer meinen Beruf ergreift, schlägt in meiner Seele Wunden. Trotz allem habe ich durchgehalten, und nach über 40 Jahren überlege ich: weshalb? Was hat mir in der Kirche die Kraft gegeben, in ihr und mit ihr auszuhalten?
Gerade zu meinem Geburtstag frage ich mich, warum ich noch in der Kirche mitmache. Für einige war Rückzug oder sogar Austritt eine Lösung. Nach langer Dienstzeit könnte ich mich aus dem kirchlichen Betrieb elegant zurückziehen. Für das tägliche Brot ist gesorgt, ich habe es mir erarbeitet. Aber so würde ich meine Kirche von außen erleben. Während ich darüber nachdenke, merke ich, dass es für mich keine Lösung ist. Es ist meine Kirche, und was mein ist, gehört zu meinem Leben. Daran hänge ich, und ich will es so lange wie möglich behalten. Die Kirche ist die Ursache von Leid und Unsinn. Gleichzeitig verkündet sie Heil und Sinn. Zu dieser Kirche gehöre ich, und sie hat mein Leben geformt. Sie hat mir geholfen, vieles zu bewältigen. Ja, ich würde sie vermissen. Es gilt, kritisch die Augen aufzuhalten, warnend die Stimme zu erheben und dem nachzuspüren, was Jesus mit Kirche gewollt hat. Ich habe versucht zu finden, was meine Beziehung zur Kirche gestärkt hat. Dabei fand ich meine persönlichen Kirchengeschichten. Winzige Ereignisse erzählen von meiner Kirche. Kleinigkeiten sind meine alltäglichen Bekenntnisse. Trotzdem antworten sie am besten auf die Frage, weshalb ich in der Kirche bin. Die Antwort ist nicht umfassend und nicht zwingend, manche Leserin und mancher Leser wird eine Gegengeschichte finden. Dogmatisch gibt es sowieso bessere Antworten. Man braucht nur die Dogmatische Konstitution des II. Vatikanischen Konzils zu lesen. Mir helfen die Geschichten, meinen 70. Geburtstag in meiner Kirche zu feiern.
Ich friere wenn ich an meine Kirche
und ihre Aufseher denke
Traurig blicke ich denen nach
die gehen oder schon gegangen sind
Doch ich bleibe weil ich Freunde habe
die mit mir die Träume nicht vergessen
die uns verändert haben
in der Kirche
(Wilhelm Bruners)
Der verbeulte Gefährte
Als junger Student fieberte ich einem eigenen Auto entgegen. Klimawandel und CO2 waren damals für mich keine Themen. Ich plante meinen Studienort zu wechseln. Die Stadt Salzburg faszinierte mich. Sie bot nicht nur eine traditionsreiche Hochschule, sondern sie versprach auch einen hohen Freizeitwert. Zumindest konnte ich den Autokauf mit der Entfernung legitimieren.
Mein Vater galt in der Familie als Autoexperte, ohne sich jemals handwerklich mit einem Wagen beschäftigt zu haben. Er hatte sich die Autos nur gekauft, so dass ich seinen Rat schätzte, als er die Kleinanzeigen durchblätterte. Die meisten Angebote kamen nicht in Frage. Sie waren zu teuer und für einen Studenten unbezahlbar. Außerdem hatte mein Vater mir beigebracht, dass die laufenden Kosten beim Kauf mit eingeplant werden mussten. Was nützte ein billiger Kaufpreis, wenn Steuer, Versicherung und Reparaturen zu viel Geld verschlangen. Eines Tages entdeckten wir die Anzeige, auf die ich lange gewartet hatte. „DKW Junior, 8 Jahre alt, 70 000 km gelaufen, kleiner Unfallschaden, für 450 DM von privat zu verkaufen.“ Ich kannte die Fahrzeuge von der Straße. Mit ihren verkürzten Heckflossen täuschten sie amerikanisches Design vor, obwohl die Karosserie auf deutsche Weise zurechtgestutzt war. Wir riefen die angegebene Telefonnummer an. Eine verkaterte Stimme meldete sich. Er habe gerade an der Uni sein Diplom abgelegt, erzählte er, und wolle zurück in seine Heimat, um dort in seinen neuen Beruf einzusteigen. Der alte DKW hindere ihn daran. Deshalb wolle er ihn loswerden.
Als mein Vater und ich vor dem Studentenwohnheim standen, erblickten wir ihn zum ersten Mal. Ungeputzt parkte er am Straßenrand. Die Scheinwerfer ragten aus den überbetonten Kotflügeln heraus, die Schlussleuchten schlossen die rückwärtigen Flossen ab. Über dem Kühlergrill waren die vier Ringe von DKW angebracht. Die lichtgrüne Farbe gefiel mir sofort. Irgendwie sah der Wagen fröhlich aus. Ich drängte darauf, bei dem Studenten zu klingeln. Ein junger Mann öffnete verschlafen die Tür. „Entschuldigung. Habe mein Examen zu stark gefeiert, meine Bude ist nicht aufgeräumt. Schauen wir uns den Wagen sofort an“, so stellte er sich vor und winkte mit dem Autoschlüssel. Zunächst umkreisten wir den Wagen. Seine Rundungen sagten mir zu, die Ecken übersah ich. Eine Delle am hinteren Kotflügel stach dagegen in die Augen. Das Blech war in der Mitte ganz eingedrückt, und die Beule zog sich vom Griff der Fahrertür bis nach hinten zum Schlusslicht. Der Lack war überall abgeblättert und hatte Rost angesetzt. Fragend blickten wir den frisch gebackenen Ingenieur an. „Ja, ja“, stotterte er, „sieht wüst aus, aber ist bis auf das demolierte Metall völlig harmlos. Ich habe einen Pfosten gestreift, so langsam und so behutsam, dass ich es fast überhört habe.“ Er lachte, wir zweifelten. „Ich versichere Ihnen, das ist der einzige Unfallschaden.“ Vor mir parkte ein verbeultes Auto, welches trotzdem liebenswert aussah. Der Besitzer merkte, wie ich mich in den DKW verguckt hatte. Erste Liebe erkennt man in den Augen. Trotzdem ließ mich die Beule nachdenken. „Noch einmal. Es ist der einzige Unfallschaden. Ich habe als Student kein Geld, um sie ausbeulen zu lassen.“ Der junge Mann klang glaubwürdig. „Ich schlage vor, ich zünde einmal den Motor. Dann hören Sie, wie zufrieden er tuckert.“ Der junge Mann öffnete die Fahrertür und setzte sich hinein. Der Motor startete sofort. Er tuckerte wirklich, nicht so laut wie ein Traktor, jedoch mit einer ähnlichen Melodie. Vielleicht hörte es sich an wie ein zu großes Moped. Tack, tack, tack, tack – der Motor lief rund. „Sie kennen doch Zweitaktmotoren.“ Mein Vater nickte, ich hatte schon einmal davon gehört, ohne zu wissen, wie solch eine Maschine funktioniert. „Sie tanken Normal. Dazu müssen sie nur regelmäßig Öl einfüllen. Das ist alles!“ Jetzt erst wurde ich auf die blaue Wolke aufmerksam, die der Auspuff in die Luft pustete. Wahrscheinlich pflegten Zweitakter eine überholte Technik.
Meinem Vater fiel sofort etwas anderes auf, nachdem er die TÜV-Plakette gelesen hatte. „Der TÜV ist überfällig!“, sagte er fast streng. „Bitte überlegen Sie“, antwortete der Verkäufer, „ich war im Examen. Da hatte ich keine Zeit für die TÜV-Untersuchung, und nun ziehe ich um. Ich weiß nicht, wie ich alles machen soll. Der Wagen muss weg.“ Ein Auto vor der anstehenden TÜV-Untersuchung zu kaufen ist ein Risiko. Mir wurde es mulmig. War der Traum vom eigenen DKW Junior bereits ausgeträumt? Aus diesem Grund war ich überrascht, als mein Vater mich beiseitenahm und mir leise ins Ohr flüsterte: „Der Blechschaden ist nicht so schlimm, der TÜV sorgt mich mehr. Trotzdem, er muss verkaufen. Nach dem Gesetz haben wir zwei Monate Zeit bis zur endgültigen TÜV-Untersuchung. Die Zeit kannst du ausnutzen und meinetwegen mit dem Wagen spazieren fahren. Sollte er dann nicht mehr durch den TÜV kommen, was soll es. Du hast deinen Spaß gehabt.“ Um Spaß ging es, von giftigen Auspuffgasen wusste ich nichts. Ich verstand die Strategie meines Vaters. „Zwei Monate Fahrfreude, dein erstes Auto. Wenn wir uns darauf einlassen, muss er mit dem Preis herunter. 450 Mark sind für die kurze Zeit zu teuer.“ Sofort fing er an zu verhandeln. Die beiden Geschäftspartner