Auf der anderen Seite mussten die einheimischen Seelsorger und die wenigen Jugendseelsorger erfahren, dass ihre bewährten Methoden der Diasporaseelsorge bei den Vertriebenen nicht in dem Maße fruchteten, wie sie es gewohnt waren.292 Vom ganzen Dorf, der ganzen Pfarrei oder der Altersgruppe begangene katholische Feiertage, die regelmäßig stattfindenden Gebetskreise, die Mitgliedschaft in den Marianischen Congregationen oder die Teilnahme an Wallfahrten gehörten zu den vertrauten religiösen Vollzügen der Jugend aus den Ostgebieten. Solche Angebote gab es in der Diaspora nicht. In Erinnerung an gewohnte Gruppenabende mit 100 Jugendlichen in Breslau oder die Wallfahrten zum Annaberg mit zehntausend Jugendlichen, bestimmt vom eigenen Gepräge des schlesischen Brauchtums, wie der besonderen Marienfrömmigkeit, mussten sich die Jugendlichen in der neuen Diasporasituation fremd vorkommen. Die Jugend in der Diaspora hingegen wuchs schon immer in einer Situation der Minderheit auf, die auch eine in sich relativ geschlossene Gruppenbildung nach sich zog. Außer dass man sich zur katholischen Jugend zugehörig fühlte, gab es also vorerst nicht allzu viele Gemeinsamkeiten.293 Beide Gruppen lebten zunächst so stark nebeneinander, dass sogar über die Bestellung eines eigenen „Flüchtlingsseelsorgers“ nachgedacht wurde.294 1948 wurde das „Dezernat für Flüchtlingsseelsorge“ mit der Aufgabe eingerichtet, die Integration der Vertriebenen zu unterstützen.295 Als nebenamtlicher Referatsleiter fungierte O. Müller. Das Dezernat bestand allerdings nur für kurze Zeit, denn es lag auch im Interesse einer geordneten Pfarrseelsorge, die verschiedenen Gruppen der vertriebenen Katholiken möglichst schnell in die bestehenden bzw. neu entstandenen Gemeinden zu integrieren.
Die katholische Jugend der Diaspora wurde von den Seelsorgern ermuntert, Kontakt zur Jugend aus den Ostgebieten aufzunehmen. Dazu zählte zunächst einmal die persönliche Begrüßung am Bahnhof durch die Jugendlichen des Ortes.296 Wer sich in die bestehenden Jugendgruppen einbringen wollte, wurde auch recht schnell integriert.297 Aber es gab auch weniger behutsamen Umgang mit den Vertriebenen. In dieser Weise konnte der Vorschlag von W. Weskamm verstanden werden, für die „Flüchtlinge“ besondere Gottesdienste abzuhalten, damit sie den religiösen Sinn ihrer Heimsuchung verstünden und sich der Seelsorge des Kommissariates bewusster einordnen könnten. Dazu wurden besondere Einkehrtage, „Missionen“ oder sogenannte „Triduen“298 für die Vertriebenen im ganzen Bereich des Kommissariates angeboten.299 Die mit den Vertriebenen ziehenden Seelsorger versuchten den Leidensbrüdern und –Schwestern, so weit es ging, Beistand zu leisten. Der Bischof vom Ermland, M. Kaller, selbst Vertriebener, oder andere versuchten als „Flüchtlingsseelsorger“ den Heimatvertriebenen bei der religiösen Bewältigung ihres Schicksals zu helfen.300 Aus den Tagebuchnotizen der Michaelgruppe von Halle-Mitte zu diesem Tag wird die von Bischof Kaller vermittelte theologische Interpretation der Vertriebenenproblematik deutlich. Die Aufgabe der Jugend unter den Vertriebenen sei es, ihr Leiden als Sühneopfer für das deutsche Volk und die sündige Welt zu ertragen. Daraus ergäbe sich zugleich die Aufgabe für die Jugend der Diaspora, die Teilnahmslosigkeit zu überwinden und die heimatlosen Brüder aufzunehmen. Die gegenseitige Bereicherung und neu gewonnene Lebenskraft drücke sich im gemeinsamen Gebet und gemeinsamer Arbeit aus.301
Die Jugend aus dem Osten hatte ihre Heimat verloren und sie stand in der Auseinandersetzung mit der Diaspora davor, auch ihre traditionellen religiösen Ausdrucksformen aufgeben zu müssen. Dem volkskirchlichen Christentum wurde zudem die besondere Vorbildfunktion der Diasporachristen gegenübergestellt. Auch wenn sie sehr pauschalisierend klingen mag, brachte die Tagebuchnotiz eines Jugendlichen aus Halle damaliges Empfinden auf den Punkt: „Die Jugend der Umsiedler kommt aus Gebieten, in denen oftmals eine Äußerlichkeit und Lauheit im religiösen Leben eingetreten ist. Sie können aus dem Geist lebendigen Glaubens, wie ihn am schönsten die Vorpostenstellung der Diaspora heranzieht, neue Kraft empfangen.”302 Die Christen der Diaspora verstanden sich als etwas Besonderes. Sie waren es, die unter schweren Bedingungen ausgehalten hatten, demgegenüber sei das christliche Leben unter volkskirchlichen Bedingungen einfacher zu gestalten gewesen. Oft hatten die Seelsorger mit der Mentalität der Jugend aus den Ostgebieten zu kämpfen. Die Erwartungen der Jugendseelsorger entsprachen nicht unbedingt den Bedürfnissen der Jugendlichen, wie Pfarrer Schmidt resignierend feststellen musste. Er beklagte sich darüber, dass eine große Schar Jugendlicher sich zurückhielte und „für eine intensive Arbeit in unserem Sinne und Formung im bündischen Stil in keiner Weise ansprechbar“ sei. Selbst in der Einschätzung der Vertriebenen wurden noch Unterschiede gemacht. Vertriebener war nicht gleich Vertriebener und Flüchtling nicht gleich Flüchtling.303 Bei manchen Klerikern hatten unter den Vertriebenen besonders die Sudetendeutschen einen schlechten Ruf.304 Derartige Stigmatisierungen verdeutlichen, dass nicht von allen Seelsorgern die besondere Problematik der heimatlosen Jugendlichen wahrgenommen wurde. Diese Haltung der Priester behinderte zugleich die Beheimatung der Vertriebenen.305 Letztendlich lösten sich erst mit dem Verschmelzen von Diasporajugend und der Jugend aus den Ostgebieten in den folgenden Jahren solche Schwierigkeiten allmählich auf.
Ungeachtet aller anderen Faktoren war die seelsorgliche Arbeit unter den Vertriebenen auch dadurch erschwert, dass ganz selbstverständliche Dinge für die religiöse Praxis fehlten. Es gab keine einheitlichen Lieder, nicht einmal eine überall gebräuchliche Melodie bei gleichem Text.306 Auch die religiösen Bedürfnisse und Frömmigkeitsformen der Jugendlichen waren verschieden. Das zeigte sich schon bei der Begrifflichkeit. So wurden in Halle die Jugendlichen darauf hingewiesen, statt wie bisher bereits üblich vom „Gottesdienst“ wieder von der „Heiligen Messe“ zu sprechen, um die Hinzukommenden nicht zu verwirren.307 Die Jugendlichen, die in volkskirchlichem Kontext sozialisiert waren, fühlten sich in dem religiös eher herausfordernden Alltag der Diaspora nicht wohl. Wallfahrten, das katholische Milieu, die vielfältigen Formen der Marienverehrung fehlten oder waren in der Diasporasituation nur lokal ausgeprägt. Die Unterschiede verstärkten die Befürchtungen der Seelsorger, dass die Flüchtlingsjugend von der relativ geschlossenen, ansässigen Jugend nicht aufgenommen werden könnten.308 Auch wenn Einzelbeispiele zeigen, dass dem nicht so sein musste, war es oft sehr schwierig, zwei derart unterschiedliche Traditionen zu verschmelzen. Der pastorale Ansatzpunkt für die Seelsorge an der Jugend aus den Ostgebieten war aus diesem Grunde in erster Linie, alle Jugendlichen zu sammeln mit dem Ziel, in jeder Gottesdienststation mindestens eine gemeinsame Jugendgruppe zu gründen und durch den gemeinsamen Glaubensvollzug die Verschiedenheit der beiden Seiten zu überwinden.309
Doch es gab nicht nur die „traditionellen“ Jugendlichen unter der Jugend aus den Ostgebieten. Auch in Schlesien gab es ähnliche Jugendaktivitäten wie in der Diaspora. Die Jugendseelsorger im Osten wurden ebenso wie in der Diaspora von Laienhelfern bei der Gestaltung von Heimabenden unterstützt. Darüber hinaus wurde aus den Jugendgruppen der Sudetendeutschen heraus ähnlich Opposition gegen den Nationalsozialismus geleistet wie anderenorts in Deutschland. Und auch die Jugend des Ostens war zum Teil durch den Einfluss der Jugendbewegung geprägt.310 Schließlich war G. Moschner Schlesier und auch der Jugendbund Quickborn hatte seine Wurzeln in Schlesien. Zumindest in den städtischen Regionen hatte Quickborn nicht unerheblichen Zuspruch bei den Jugendlichen gehabt,311 mit der Einschränkung, dass von diesen bündischintellektuellen Gruppierungen eher nur ein kleiner Teil der Jugend der Volkskirche angesprochen wurde und weniger die Masse.312 So waren für diese Jugendlichen aus den Ostgebieten liturgische Elemente wie der gemeinsame Opfergang, die „missa recitata“ oder die Feldgottesdienste nicht neu. Auch das christliche Laienspiel wurde sowohl in volkskirchlicher wie auch in der Tradition der Diaspora als Möglichkeit der Glaubensverkündigung gepflegt. An die bisherigen Traditionen anzuknüpfen aber war ihnen nicht möglich. Schließlich hatten die Vertriebenen aus den Ostgebieten nur in den Pfarrgemeinden die Möglichkeit, in begrenztem Rahmen ihr religiöses Brauchtum zu pflegen. Überall sonst war in der SBZ den „Umsiedlern“ oder „Neubürgern“