Das Kriegsende brachte für die Seelsorge nicht nur kirchenpolitische Veränderungen. Die Kapitulation des Deutschen Reiches war für die Jugendlichen auch eine gravierende Zäsur in Bezug auf ihre Weltbilder. Mit dem Zusammenbruch des so genannten „Dritten Reiches“ wurden vielen der aktiven katholischen Jugendlichen alte Ideale genommen, die sie teilweise noch bis in die letzten Kriegsmonate mit aufrechter Überzeugung gelebt hatten. Die seit Anfang des 20. Jahrhunderts gelebte Verbindung von bündischen und nationalen Elementen in der Jugendseelsorge war spätestens mit dem Kriegsende als gescheitert anzusehen. Die von den katholischen Jugendlichen geträumte Idee vom dreifachen Reich: dem Reich Christi, dem Reich der Jugend und dem Deutschen Reich,25 musste mit der Niederlage des letzteren begraben werden.26 Dieser inneren Orientierungslosigkeit der Jugend wurde durch die Kriegsfolgen noch eine äußere hinzugefügt.27 Die ehedem in der Diaspora28 beheimaten älteren Jugendlichen kamen als Kriegsheimkehrer in ihre zerstörten Städte zurück. Der weitaus größere Teil der sich nun in Mitteldeutschland einfindenden Jugendlichen aber waren Flüchtlinge oder Vertriebene, die ihrer katholischen Heimat verlustig geworden waren. Sie mussten versuchen, in der Fremde, zum Teil gegen den Widerstand der Eingesessenen, Fuß zu fassen.
Die Zäsur des Kriegsendes ließ aber auch trügerische Hoffnungen aufkommen. Es wurde bei den Seelsorgern in der Diaspora die Erwartung geweckt, durch den Zustrom der katholischen Vertriebenen einen nicht nur zahlenmäßigen Impuls für das Wiedererstarken der katholischen Kirche in der Diaspora des mitteldeutschen Raumes zu erhalten. Zum Anderen keimte die zaghafte Hoffnung auf, durch die sich wandelnden politischen Verhältnisse einen neuen Freiraum für die kirchliche Arbeit außerhalb der Pfarrgemeinde zugesprochen zu bekommen. Doch der Aufschwung katholischen Lebens nach dem Krieg erfolgte in der SBZ nur zögerlich. Der bald enger werdende politische Rahmen ließ eine öffentliche Entfaltung des Religiösen auf Dauer immer weniger zu. Auch die Flüchtlinge und die Vertriebenen, die ihre christlich geprägte Heimat verloren hatten, entwickelten nicht automatisch das Bedürfnis, in der „Fremde“ den Aufschwung des Katholischen initiieren zu wollen. Sie, obwohl sie die Mehrzahl der Katholiken in Mitteldeutschland stellten, konnten nicht den katholischen Aufschwung im Land der Reformation herbeiführen. Dies enttäuschte die teilweise hochgesteckten Erwartungen der Kirchenführer. Denn sie wollten den unerwarteten zahlenmäßigen Zustrom durch die katholischen Vertriebenen für eine Rekatholisierung der Diaspora des „Ostens“ nutzen.29 Diese beiden Haltungen prallten aufeinander und mussten Ernüchterungen zur Folge haben, als dem plötzlichen, heftigen Zustrom von Katholiken ein sich bis 1961 hinziehender Wegzug aus der SBZ/DDR, wenn auch ganz unterschiedlich motiviert, folgte.30 Dazu kam ein langsamer, lautloser aber stetiger innerer Auszug derer aus der Kirche, die sich mit dem sozialistischen System arrangierten und dafür ihre christlichen Wertvorstellungen aufgaben. Dieser lautlose Auszug aus der Kirche hatte verschiedene Gründe. Einer der Gründe war die Tatsache, dass die vertriebenen Katholiken in die Gemeinden der neuen Heimat nicht sogleich beheimatet werden konnten und weiter Richtung „Westen“ zogen. Weiterhin konnte der nicht zu unterschätzende gesellschaftliche Druck die Gläubigen von der ehemals beheimatenden Kirche entfremden. Aber auch die sich verschlechternden beruflichen und gesellschaftspolitischen Perspektiven für engagierte Christen in der SBZ führten zu einem oft lautlosen Auszug aus der katholischen Kirche. Aus diesen Gründen befand sich die katholische Kirche in Mitteldeutschland in den ersten Nachkriegsjahren in einer Zeit zwischen Hoffnung und Desillusionierung.
Zu den bereits angeführten Überlegungen kommt noch ein weiterer Gesichtspunkt hinzu. Die Seelsorge in Deutschland und damit auch die Jugendseelsorge waren nach der Unterdrückung während der NS-Zeit von einem gewissem Rigorismus geprägt, der aus der Erfahrung der vorangegangenen Jahre gelernt hatte, welche Folgen ein Rückzug auf den religiösen Bereich haben konnte. Diese Art von gesellschaftlicher Ausgrenzung sollte sich nach dem Kriegsende nicht wiederholen. Einerseits hatte die katholische Kirche durch die Unterdrückung in der Zeit der Nationalsozialisten eine gesellschaftliche Marginalisierung erlitten. Andererseits wurde durch den äußeren Druck der nationalsozialistischen Diktatur eine Differenzierung eingeleitet, zwischen dem auf rituelles Tun beschränkten Teil der Katholiken und denen, die unter den schwerer werdenden Bedingungen aus ihrem Verständnis von christlicher Nachfolge heraus sich mehr und mehr als Minderheit erlebten und zum Widerstehen verpflichtet fühlten. Dieser Teil war unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen gegebenenfalls zum Widerstand auch gegen das sich einrichtende sozialistische Gesellschaftssystem bereit. Ähnliches traf auch für die katholischen Jugendlichen der Diaspora zu. Das gelebte Katholische „in der Fremde“ verlangte ein stärkeres persönliches Engagement, um „in der Zerstreuung“ überleben zu können. Überdies gab es bei den Jugendlichen noch eine stärkere Identifizierung mit Idealen der katholischen Jugend aus der Zeit des Deutschen Reiches, die getragen wurde vom Engagement einzelner, der so genannten „Elite“,31 mit dem Wissen, dass die katholische Kirche in der Diaspora nur als engagierte und nicht,32 im Kontrast zum dominant evangelisch geprägten Umfeld, als volkskirchliche eine Chance hatte.33 Ganz im Gegensatz dazu stand die Hoffnung auf die Wiederherstellung Weimarer Verhältnisse und das Erstarken des Katholischen in Mitteldeutschland bei den Ordinarien. Beide Strömungen prallten in der sich konstituierenden Jugendseelsorge Mitteldeutschlands aufeinander und mussten von ihr als zusätzliche Hypothek bewältigt werden.
1 Der politische Rahmen in der SBZ
Der Zeitraum zwischen 1945 und 1950 war einerseits durch das Kriegsende und andererseits durch den Beginn des Kalten Krieges und die Zeit des sich anbahnenden „Kirchenkampfes“ bestimmt. In dieser Zeit ging es den Siegermächten und deren Verbündeten zunächst vor allem darum, das Macht- wie auch das geistige Vakuum im Nachkriegsdeutschland auszufüllen. Auch die katholische Kirche sah darin für sich eine wichtige Aufgabe. Wegen ihrer zum Teil kritischen Haltung gegenüber den Nationalsozialisten sprach ihr die Besatzungsmacht in der SBZ zunächst einen relativ großen Gestaltungsspielraum zu, auch wenn dieser schon kurze Zeit später durch die gleichgeschaltete Politik von SMAD und KPD bzw. SED wieder beschnitten wurde. So bekamen die Rekatholisierungshoffnungen im Nachkriegsdeutschland nur im Westen Deutschlands durch die einsetzende Demokratisierung neue Nahrung. Im „Osten“ wurden diese Hoffnungen durch die Erfahrungen mit der sowjetischen Besatzung und der neuen Regierung sehr schnell gedämpft. Denn schon bald war offensichtlich, die eigentlichen Motive der SMAD und der kommunistischen Kader für die Annäherung an die Kirchen lagen darin begründet, diese politisch instrumentalisieren zu wollen.34 Daher kamen die alten „Feindbilder“ bald wieder zum Tragen. Ein ausgewiesener Antibolschewismus hatte bereits in der Zeit der Weimarer Republik die Position der katholischen Kirche gegenüber der atheistischen Sowjetunion geprägt.35 Dieser verfestigte sich nach dem Krieg, als nicht nur die Kirchen in der SBZ eine „Bolschewisierung“ durch die sowjetische Besatzung erfahren mussten.36 Ab 1945 lebte die Bevölkerung in der SBZ unter dem direkten Einfluss des „Bolschewismus“, was bei vielen Katholiken eine großen Angst vor „den Russen“, der Verkörperung des „Antichristen“, auslöste. Diese Angst war speziell bei den Vertriebenen oft mit persönlichen Erfahrungen aus den letzten Kriegsmonaten unterlegt.37 Durch die tagtäglichen Erfahrungen willkürlicher Entscheidungen der sowjetischen Besatzungsmacht und mit den Übergriffen