Diese Definition führt zu einem zentralen Problem der historischen Diskursanalyse, der Rolle des Subjekts. Hier gilt es, das Diskursverständnis von Foucault genauer zu erläutern, um es anschliessend für das Feld der Historie handhabbar zu machen. Nach Foucault sind Diskurse «institutionalisierte bzw. institutionalisierbare Redeweisen, deren Regeln und Funktionsmechanismen gleichsam positiv zu ermitteln sind».149 Foucault geht es also um die Positivität des Diskurses. Er fragt nicht danach, was mit dem Gesagten eigentlich gemeint gewesen sei, sondern ihn interessiert die Tatsache der Existenz von Aussagen, warum ausgerechnet sie und keine anderen zu einer bestimmten Zeit an einer bestimmten Stelle auftauchen. Diskurs kann man demnach als Differenz bezeichnen zwischen dem, was jemand zu einer bestimmten Zeit nach den Regeln der Grammatik und Logik korrekterweise sagen konnte, und dem, was tatsächlich gesagt worden ist.150 In der Folge lehnt er auch die Frage nach der Person, die «hinter der Aussage steht», ab: «Die Frage ist also nicht, wer spricht, sondern von wo aus gesprochen wird.»151 Hier kann man dem Foucaultschen Konzept der Diskursanalyse berechtigterweise vorwerfen, sie erhebe den Diskurs zum eigentlichen Subjekt der Geschichte und marginalisiere damit die historischen Akteure bis zur Unkenntlichkeit. So meinte beispielsweise Thomas Mergel, dass die «umfassende ‹Textifizierung› menschlichen Handelns und sozialer Wirklichkeiten [...] auf eine Anonymisierung der Geschichte im Sinne des Wirkens dunkler Mächte und auf die Abschaffung des Subjekts in seiner sozialen Wirklichkeit» hinauslaufe. «Handelnde Menschen kommen in einer Geschichte als ‹Text› nicht vor; die Worte haben ihre Aufgabe übernommen.»152 Einen Ausweg aus dieser zwar stringenten, aber nicht ohne Korrektur in die Praxis des Historikers umzusetzende Theorie eröffnet Philipp Sarasin, der als Alternative zur Aufgabe des Subjekts zwei Möglichkeiten sieht, dieses zu denken: «[...] man glaubt an seine Fähigkeit, in einem nicht-trivialen Sinne bewusst zu sprechen oder zu handeln sowie sich über die letzten Motive seines Handelns Klarheit zu verschaffen – und betrachtet daher seine Handlungen und Äusserungen durchweg als Strategien. [...] Oder schliesslich, man verfügt über eine Theorie des dezentrierten Subjekts, die zumindest zur Vorsicht gemahnen bzw. perspektivisch zeigt, dass Menschen eben gerade nicht und nie restlos auf ihre rational rekonstruierbaren Interessen und Wertideen reduzierbar sind.»153 Damit kann man zeigen, dass Subjekte sich dennoch, trotz ihrer Dezentriertheit durch die Diskurse, als eigenständige Realität erfassen lassen. Doch um diese Realität zu erkennen, müssen die Diskurse zuerst analysiert werden.154 Historische Diskursanalyse, wie sie hier verstanden wird, untersucht demnach die Wahrnehmung von Wirklichkeit, oder mit Achim Landwehr: «[...] die Sachverhalte, die zu einer bestimmten Zeit in ihrer sprachlichen und gesellschaftlichen Vermittlung – und eine andere Art der Aneignung von Welt ist nicht denkbar – als gegeben anerkannt werden.»155 Die zentralen Fragen nach den Aussagen des Diskurses lassen sich über den Weg der rhetorischen Figuren, stilistischen Mittel und Argumentationsmuster stellen: «Welche [...] Struktur offenbaren die Aussagen? Welches Wissen wird vorausgesetzt? Welche Kategorisierungen, Kausalitäten, Wertehierarchien lassen die Aussagen erkennen? Welches Wissen wird in den Aussagen unterdrückt, nicht berücksichtigt? In welchen Zusammenhängen tauchen die Aussagen auf? Welche sich widerstreitenden Aussagen lassen sich in verschiedenen Texten beobachten? Wer versucht mit welchen sprachlichen Mitteln bestimmte Aussagen zu platzieren?»156 Wie es methodisch möglich wird, Antworten zu diesen Fragen aus dem Text herauszupräparieren, soll im Folgenden gezeigt werden.
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METHODISCHES VORGEHEN
Da die Analyse von Diskursen neben Soziologen und Historikern wesentlich von Linguisten und Literaturtheoretikern mitentwickelt wurde, existieren in Bezug auf ihre Operationalisierung grosse Unterschiede. Entsprechend variiert je nach Methode auch das Verhältnis von technischem Aufwand und dem Nutzen für Historiker. Besonders die Disziplin der Soziolinguistik hat (im deutschen Sprachraum) mit Jürgen Link und Siegfried Jäger zwei produktive Verfechter der «kritischen Diskursanalyse».157 Methodologisch allerdings sind diese Ansätze nur mit grossen Schwierigkeiten auf das historische Feld übertragbar – die Fokussierung der Linguisten auf den Mikrobereich der Sprache, das heisst auf die Wort- und Zeichenebene, macht es für den Historiker ungeheuer aufwändig, längere Texte und oder gar serielle Textproduktionen zu untersuchen. Die Spannweite soziolinguistischer Ansätze reicht von der Lexikometrie, die lexikologische Analysen mit Hilfe von Computerprogrammen durchführt, über die Untersuchung von Fachtermini und politischem Vokabular bis zum semiotischen Ansatz von Jürgen Link, der die Funktionsweise sprachlicher «Kollektivsymbole» untersucht.158 Link nennt zum Beispiel den Terminus «Fairness», der sowohl in der «hohen Literatur» als auch in Alltagstexten und vor allem in mehreren Diskursen Verwendung findet; «Fairness» beschränkt sich nicht auf den Sportdiskurs, man findet den Begriff auch im juristischen, politischen oder religiösen Diskurs. Fairness ist im Sinne von Link deshalb ein typisches Beispiel für ein «interdiskursives Element».159
Auf das diffizile Feld der Operationalisierung für die historische Forschung wagen sich gewinnbringend vor allem Achim Landwehr, Peter Haslinger und Philipp Sarasin. Umfassend und überzeugend führt Landwehr von der Theorie zur Praxis. Auch Philipp Sarasin hilft methodisch weiter, obwohl er Diskursanalyse ausdrücklich nicht als Methode versteht, sondern «eher als eine theoretische, vielleicht sogar philosophische Haltung».160 Peter Haslinger schliesslich formuliert noch einmal zentrale Probleme der Diskursanalyse, wie sie auch Landwehr und Sarasin erörtern, und führt dann zu deren Bewältigung neue Instrumentarien ein: «die Diskursarena, die diskursive Versäulung, die diskursive Reichweite, die diskursive Kreativität des Individuums, den Rekurs auf Themen».161 Am Ende schliesst, wie bei Landwehr auch, ein stichwortartiges Modell an, eine Art Leitfaden zur praktischen Bewältigung der Diskursanalyse.162 Das in der vorliegenden Studie verwendete und im Folgenden erläuterte Vorgehen lehnt sich im Wesentlichen an die Arbeiten dieser drei Autoren an.
Für das Gelingen der Diskursanalyse zentral, darin sind sich alle Autoren einig, ist die Korpusbildung der Quellen. Selbstverständlich ist diese eng mit der jeweiligen Fragestellung verknüpft. Obwohl die historische Diskursanalyse zur klassischen Hermeneutik auf Distanz geht, beruht die Zusammenstellung des Textkorpus wesentlich auf hermeneutischen Verfahren; es besteht also ein nicht geringer Spielraum bezüglich der thematischen Eingrenzung und der damit heranzuziehenden oder auszuschliessenden Texte. Wichtig ist die Gleichförmigkeit der Quellen, die es erlaubt, die Wiederholungen von immer wieder ähnlich Gesagtem oder Geschriebenem zu analysieren. Denn es ist genau diese Aneinanderreihung von miteinander verbundenen Aussagen, konkret Einzeltexten – die «Einschreibung», wie sie Sarasin bezeichnet –, die die Diskursanalyse empirisch begründet.163 Die Hermeneutik spielt hier insofern eine Rolle, als die Eingrenzung des Textkorpus nicht ohne ein bestimmtes Vorwissen möglich ist. Von der Gesamtheit aller Äusserungen zu einem bestimmten Diskurs