Vor der eingehenden Erläuterung dieser drei Punkte ist es hilfreich, zuerst die im Folgenden verwendeten Begriffskonzepte von «Diskurs» und «Diskursanalyse» herzuleiten. Dass diese Begriffe in der vorliegenden Arbeit nicht vermieden werden können, wie das ihre mittlerweile beliebige Verwendung in Wissenschaft und Literatur nahelegen könnte, hat mit dem Mangel an Alternativen zu tun.127 Zwar deckt man im Deutschen mit «Text», «Diskussion» oder «Debatte» einen Grossteil der Bedeutungen des Wortes «Diskurs» ab, aber eine Diskursanalyse ist mehr als die Darstellung eines Redegefechts, «die Lektüre und Interpretation eines Textes oder die Rekonstruktion einer Debatte».128 Damit sei zur Klärung auch gleich gesagt und vorweggenommen, dass in der vorliegenden Arbeit der Terminus «Diskurs» nicht im Sinne von Text, Diskussion oder Debatte verwendet wird, sondern nur im Zusammenhang mit einer im Folgenden noch genauer zu definierenden institutionalisierten Redeweise im Sinn und in der weiterentwickelten Tradition von Michel Foucault.
Gareth Stedman Jones hat in seinem Buch zur Chartistenbewegung in England, Languages of Class, den Begriff «Diskursanalyse» der Einfachheit halber durch «Sprachanalyse» ersetzt, um den missverständlichen und (zu) häufig gebrauchten Terminus zu vermeiden.129 Der Preis dafür ist allerdings «eine verwirrende Wagheit.»130 Wenn mangels begrifflicher Klärung und Definition alles nur noch Sprache ist, kann die Diskursanalyse keine über die traditionelle Ideengeschichte hinaus reichende Erkenntnis mehr leisten.
«Diskurs» besinnt sich in der Tat auf die zentrale Bedeutung der Sprache für die (Geschichts-)Wissenschaft. Nimmt man mit den Vertretern der historischen Diskursanalyse an, dass die Wirklichkeit im Wesentlichen durch die Sprache vermittelt wird, muss sich die Geschichtswissenschaft konsequenterweise vornehmlich dem sprachlichen Niederschlag der Erfahrungen der Menschen nähern. Für die Geschichtswissenschaft, die, abgesehen von der Kunstgeschichte und der «oral history», in ihrer Arbeit zum allergrössten Teil verschriftlichte Äusserungen ins Zentrum stellt, ist es die Sprache, die die Wirklichkeit konstituiert: «Die sinnhafte, die soziale Realität ist eine unmittelbare oder eine in Sedimenten abgelagerte mittelbare Wirkung der von Sprechern verwendeten sprachlichen oder allgemeiner der semiotischen Strukturen [...].»131 Die Tatsache, dass die von Historikern behauptete Wirklichkeit eine konstruierte ist, wie das bereits Reinhart Koselleck vor 30 Jahren knapp bemerkt hat, stand (neben anderen, zum Beispiel methodischen Gründen) einer breiten Akzeptanz der Diskursanalyse wohl lange Zeit im Weg.132 Philipp Sarasin spricht hier von einem auf einem Selbstmissverständnis basierenden Abwehrreflex der Zunft.133
Dabei handelt es sich bei der Diskursanalyse nicht etwa um eine Geschichte der Sprache. Weil Geschichte immer in Form von Zeichensystemen vermittelt (und damit konstruiert) wird, macht sie vielmehr die Sinnhaftigkeit dieser Konstruktion zum Gegenstand der Untersuchung. Die Diskursanalyse fragt schlicht: Wie entsteht der Sinn?134 Auf den dazugehörigen Kontext verzichtet die Diskursanalyse aber keineswegs, denn «sprachliche Wirklichkeitskonstruktionen werden immer in konkreten gesellschaftlichen, religiösen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Zusammenhängen vollzogen. Die zu untersuchenden Texte sind immer in einen bestimmten Kontext eingebettet.»135 Damit hat auch die klassische Hermeneutik weiterhin ihre Berechtigung – ohne kontextuelle Untersuchung, wer zu welchem Zeitpunkt an welchem Ort und in welcher Form welche Aussagen macht, kann kein Textkorpus zusammengestellt werden.136 Die Diskursanalyse rekonstruiert, wie ein Text seine Bedeutung(en) erzeugt, ohne bereits zu wissen, was der Autor eigentlich sagen wollte. Ihr Gewinn gegenüber der klassischen Hermeneutik liegt darin, «das forschungspraktische Apriori, Texte nicht hermeneutisch auf der Basis von Traditionszusammenhängen und ‹Vorurteilen› zu verstehen». Stattdessen analysiert sie «die Struktur ihrer Signifikanten» und ermöglicht es, auch in «scheinbar eindeutigen Texten Subtexte und möglicherweise gegenläufigen Sinn zu vermuten».137 Mit Gareth Stedman Jones wird also die These vertreten, «dass eine von a-priorischen Auffassungen befreite Interpretation der Sprache und der Politik es ermöglicht, eine weit engere und genauere Beziehung zwischen Ideologie und Handeln aufzuzeigen», als dies mit herkömmlichen Verfahren möglich wäre.138 Man kann auch sagen, dass das naive Verstehen, «das dort Kontinuitäten schafft, wo es darum ginge, die Brüche wahrzunehmen»,139 den Kern der diskurstheoretischen Kritik an der Geschichtswissenschaft darstellt.
Heute sind mindestens zwei konkurrierende Konzepte des Diskursbegriffs im Umlauf. Auf der einen Seite steht der Diskursbegriff, der von Jürgen Habermas in den 1970er-Jahren geprägt worden ist und seither vor allem im deutschen Sprachraum Verbreitung fand. Habermas versteht unter Diskurs das rationale, herrschaftsfreie Gespräch zwischen aufgeklärten und gleichberechtigten Subjekten, bei dem allein die besseren Argumente entscheiden und einen Konsens herbeiführen.140 Habermas’ Akzent liegt auf der Ethik des Diskurses und der Konsensbildung. Diesem philosophischen Konzept gegenüber steht das sozialwissenschaftliche von Michel Foucault, das vor allem von ihm, basierend auf den Vorarbeiten der französischen Annales-Historiker Lucien Febvre und Marc Bloch, in den 1960er-Jahren geprägt worden ist.141 Als Diskurse bezeichnet er nicht nur Texte, die man hermeneutisch ergründen kann, sondern institutionalisierte Redeweisen, deren Regeln und Mechanismen zu ermitteln beziehungsweise ermittelbar sind. Er zielt auf konkrete empirische Untersuchungen, während bei Habermas ein Ideal im Zentrum steht, das keine empirische Forschung eröffnet.142
Diskursanalyse kann auch als «Hermeneutik zweiter Ordnung» bezeichnet werden.143 Der Vorteil der historischen Diskursanalyse liegt darin, dass Probleme der Hermeneutik, des «Verstehens» von Texten, durch die Konzentration auf die Positivität von Aussagen umgangen werden können. Grundvoraussetzung für einen Diskurs ist eine kommunikative Situation. Er regelt die Möglichkeiten von Aussagen zu einem bestimmten Gegenstand. Der kritische Impuls der Diskursgeschichte besteht darin zu zeigen, wie «Wahrheiten» jeweils historisch vorgebracht und in gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen Zusammenhängen wirksam wurden.144 Dabei gilt es immer, auf die «Möglichkeitsbedingungen» zu achten, wie dies Roland Barthes formuliert hat.145 Das heisst, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt von einer sozialen Gruppe nur ganz bestimmte Aussagen gemacht werden konnten, das Gesagte also gewissen Regeln und Grenzen unterworfen war.146 Landwehr spricht von «Aussagefeldern, welche regulieren, was gedacht, gesagt und getan werden kann».147 Die Durchsetzung von Deutungen