Ein Teil der Verantwortung liegt bei den für die Ausbildung neuer Mitglieder zuständigen Schwestern und den Leitungskräften, nicht zuletzt bei den während des Treffens der UISG versammelten Generaloberinnen. Schockierend waren Berichte über Gemeinschaften, die in eine komplette Abhängigkeit vom Klerus geraten waren. So mussten Novizinnen vor Ablegung ihrer ersten Gelübde eine Woche lang im Bischofshaus „Praktikum“ machen und sexuelle Dienstleistungen erbringen, als Bedingung dafür, dass der Bischof bei der Ablegung ihrer Gelübde der Eucharistie vorsteht oder sie weiterhin finanziell unterstützt. Das alles geschah (und geschieht) nicht selten im Wissen und mit dem Einverständnis der zuständigen Oberinnen. So verkamen ganze Schwesternkonvente zu einem Harem des Episkopats. Durch Mark und Bein gingen Zeugnisse von Frauen, die von ihren Gemeinschaften verstoßen wurden, nachdem sie nach einer Vergewaltigung durch einen Priester schwanger geworden waren. Statt ihnen zur Seite zu stehen und den Fall zur Anzeige zu bringen, wurde der betroffenen Schwester die Schuld gegeben und der Priester gedeckt. Die perverseste Schilderung betraf eine Ordensfrau, die vom Hausgeistlichen ihrer Gemeinschaft vergewaltigt wurde. Als sie ihre Schwangerschaft nicht mehr verbergen konnte, wurde sie von ihrer Gemeinschaft verstoßen. Ihr Peiniger zwang sie zur Abtreibung. Als sie bei dem Eingriff starb, war es derselbe Täter, der als Priester die Beerdigung hielt und das Requiem für sie zelebrierte.
Auf dem Hintergrund dieser erschütternden, kaum auszuhaltenden Berichte und persönlichen wie strukturellen Sünden erscheint mir die Foto-Ausstellung „Nonnen heilen Herzen“ wie ein Trostpflaster, das die eigentlichen – gerade die innerkirchlichen Missstände – nicht beheben kann. Die Arbeit der Ordensfrauen und das Engagement kirchlicher Organisationen können unsägliches Leid mildern und Betroffenen helfen. Durch Initiativen wie Talitha kum, RENATE33 oder SOLWODI e. V.34 werden weltweit Opfer von Frauenhandel und Zwangsprostitution oder Betroffene ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse in ihrer Würde ernst genommen und mit ihnen Wege gesucht, damit ihre körperlichen und seelischen Wunden heilen können. Unsere Gemeinschaft ist selbst seit mehr als 20 Jahren Mitglied im „Aktionsbündnis Frauen gegen Frauenhandel“35 und hat in unseren frauenspezifischen Jugendhilfeeinrichtungen immer wieder Mädchen und junge Frauen begleitet, die im Rahmen eines Zeuginnenschutzprogramms Zuflucht vor Verfolgung gesucht haben. Zusammen mit vielen engagierten Männern und Frauen legen Ordensleute ihren Finger in die Wunde der Auswüchse eines weltweit agierenden kriminellen Netzwerks, in dem Menschen wie Sklav*innen gehalten bzw. wie Waren gehandelt, gekauft, benutzt und weggeworfen werden.
Wie kaum ein anderer Kirchenvertreter vor ihm entlarvt Papst Franziskus die menschenverachtende Dynamik eines dahinterstehenden kapitalistischen neoliberalen Wirtschaftssystems, das dem Götzen des Profits und unersättlichen Reichtums huldigt und damit über Leichen geht. Dennoch stehen die Kirche und die Ordensgemeinschaften in ihr erst am Anfang, wenn es um die Aufarbeitung von geistlichem Missbrauch, Machtmissbrauch sowie sexualisierter Gewalt an Mädchen und (Ordens-)Frauen in den eigenen Reihen geht.36 Wie bei der Aufdeckung von Missbrauch an Minderjährigen und Schutzbefohlenen ist zu fragen, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, um diesen Verbrechen ein Ende zu bereiten und die Strukturen zu verändern, die solche Abhängigkeiten und Ausbeutung begünstigen. Solange innerkirchlich die klerikalen und patriarchalen Machtverhältnisse nicht durchbrochen werden, kann es keine wirkliche Befreiung und Gleichstellung zwischen den Geschlechtern geben.
Innerkirchliche Frauenverachtung hat System
Diese Beseitigung von Diskriminierung sowie die volle Chancengleichheit und Geschlechtergerechtigkeit in der römisch-katholischen Kirche halte ich für eine – wenn nicht sogar für die zentrale – Bedingung der Möglichkeit, auf Augenhöhe zu kommunizieren und in die Gesellschaften aller Kulturen hinein ein Vorbild für eine neue Geschwisterlichkeit und globale Solidarität abzugeben, wie sie Papst Franziskus in seiner Sozialenzyklika „Fratelli tutti“ fordert.37 Die Frauenfrage ist ein Thema, das die Hälfte der Menschheit als Individuen betrifft und in allen Kulturen, Gesellschafts- und Staatsformen eine Rolle spielt. Als weltumspannende Institution könnte die katholische Kirche hier eine Vorreiterfunktion übernehmen, um der Ungleichbehandlung, Ausbeutung, Diskriminierung von Frauen auf dem Boden der froh machenden Botschaft Jesu Christi, seines wertschätzenden Umgangs mit Frauen, seiner Erwählung von Frauen zu Erstzeuginnen der Auferstehung und seines Rufs in die Nachfolge unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder Status entgegenzuwirken. Von dieser Voraussetzung sind wir allerdings innerkirchlich weit entfernt. Stattdessen wird ein Klassensystem aufrechterhalten, das schon rein sprachlich das Volk Gottes aufteilt in Geweihte und Nicht-Geweihte, Haupt- und Ehrenamtliche, Mann und Frau.38
Als (Ordens-)Frau bin ich besonders sensibilisiert für Erfahrungen, die mit Abwertung, Verachtung und Ausgrenzung von Frauen in der von Männern dominierten Kirche zu tun haben. Chauvinismus, Sexismus und Misogynie sind ähnlich wie Rassismus, Antisemitismus, Islamophobie oder andere Formen der Stigmatisierung Andersdenkender, -glaubender oder -liebender für mich als gläubige Christin unerträglich, weil sie nicht nur Lehre und Leben Jesu Christi konterkarieren, sondern gegen alles verstoßen, wofür Kirche zu stehen hat. Sie sind aber an der Tagesordnung – nicht nur, weil wir alle Sünder*innen und fehlbar sind – sondern weil die Strukturen selbst Schieflagen und Asymmetrien hervorbringen.
Ich möchte dies an einem konkreten Beispiel illustrieren: Am Nachmittag des 9. Mai 2019 sprach der Vorsitzende der Religiosenkongregation im Vatikan, Kardinal Braz de Aviz, zu den in Rom versammelten 850 Generaloberinnen. Zunächst dankte er den Ordensfrauen für ihren Dienst und teilte einige Neuigkeiten aus seiner Behörde mit. Der jovial wirkende Kardinal gilt als umgänglich und offen für die Anliegen der Ordensgemeinschaften. Nach einer kurzen Ansprache stellte er sich unseren Fragen. Es ging um Finanzen, Ordensnachwuchs und andere Themen. Jedes Mal antwortete der Brasilianer ausführlich und zeigte Sinn für Unterhaltung und Humor. Grundlegend ermutigte de Aviz die aus der ganzen Welt angereisten Schwestern, nicht zu ängstlich zu sein oder auf das Kirchenrecht zu schielen, sondern die eigenen Ermessensspielräume kreativ auszuloten und pragmatisch zu nutzen. Als ich an die Reihe kam, stellte ich dem Kardinal die Frage, was denn die Kommission herausgefunden habe, die sich seit 2016 mit dem Frauendiakonat beschäftigt hatte. Auf einmal verfinsterte sich die Miene des vorher so unterhaltungsfrohen und zum Plaudern aufgelegten de Aviz: „Dazu kann ich nichts sagen. Ich habe mit der Kommission nichts zu tun.“ Punkt. Kein vermittelndes Wort, keine freundliche Erklärung. Ich konnte gar nicht anders, als mich schlichtweg abgewürgt zu fühlen. Dann folgte ein Nachsatz im chauvinistisch-paternalistischen Ton: „Wenn ich in Ihre Runde schaue, sehe ich, wie viel sich im Ordensleben verändert hat. So viele bunte Gewänder. So viele schön gestaltete Frisuren.“ Innerlich kochte ich vor Wut. Am Ende der Sitzung schlug ich mich ans Podium durch und wartete geduldig, bis der Kardinal die zahlreichen Wünsche erfüllt hatte, sich mit ihm ablichten zu lassen.
„Herr Kardinal, würden Sie den Satz, den Sie vorhin über unsere bunten Ordenskleider und hübschen Frisuren gesagt haben, auch so sagen, wenn Sie zur Mitgliederversammlung der Vereinigung der Ordensoberen (USG) eingeladen wären? Würden Sie vor 850 Äbten, Generaloberen und Provinzialen wiederholen, man könne den Fortschritt, den das Ordensleben in den letzten Jahrzehnten gemacht habe, daran erkennen, dass sie so bunt vor Ihnen sitzen und so hübsche Frisuren hätten? Ich sehne mich nach einer Kirche, in der Frauen endlich ernst genommen werden und man mit uns auf Augenhöhe über Inhalte spricht statt über Äußerlichkeiten.“ Sichtlich überrascht über meine Aufregung versuchte der Kardinal zu beschwichtigen: „Ich komme aus einer kinderreichen Familie mit vielen Brüdern und Schwestern. Wir haben immer viel gestritten, das ist ganz normal. Da gab es keine Unterschiede …“ Bald dämmerte mir, dass es an dieser Stelle keinen Sinn haben würde, weiter zu diskutieren; die Schlange der Schwestern, die den Kardinal persönlich sprechen wollten, war noch lang. Also verabschiedete ich mich mit den Worten: „Machen wir weiter im Einsatz für das Reich Gottes!“39