Das Spezifische der Frage nach Gott im Zusammenhang mit dem Altwerden und dem Verlust der geistigen Kräfte scheint mir in der Spannung der Begriffe ‚Vergessen‘ und ‚Erinnern‘ zu liegen, die darum den Titel dieser Arbeit bilden. Im Buch Jesaja und im Buch der Psalmen gibt es bekannte, sehr berührende Stellen, in denen (alte) Menschen Gott anrufen, sie nicht zu verlassen, und Gott ihnen das verspricht:
Jes 46,4: „Ich bleibe derselbe, so alt ihr auch werdet, bis ihr grau werdet, will ich euch tragen. Ich habe es getan, und ich werde euch weiterhin tragen, ich werde euch schleppen und retten.“ (Vgl. Ps 71,18; Jes. 49,15)
Oder Ps 27:10 „Wenn mich auch Vater und Mutter verlassen, der Herr nimmt mich auf.“
Eine alte Frau hält ihre Tasche fest, in die sie alles gepackt hat, was sie zu brauchen glaubt. Am Beginn des Demenzprozesses spürt sie, dass sie immer vergesslicher wird. Ihr ganzes Bemühen ist darauf gerichtet, dass es niemand bemerken soll. Einige Monate, vielleicht Jahre später hat sie vergessen, wer sie ist, erkennt ihren Sohn nicht mehr und spricht unverständliche Sätze. Noch später liegt sie im Bett, es ist nicht mehr möglich, sie in einen Rollstuhl zu setzen. Sie streckt ihre Arme aus und ruft nach ihrer Mutter. Ihre Mutter hat sie schon lange verlassen: Vor vielen Jahren ist sie gestorben. Daran kann die alte Frau sich nicht mehr erinnern, fühlt sich wie ein verlassenes Kind.
Der zweite und dritte Teil (II, III) beschäftigen sich mit konkreter Liturgie in österreichischen und deutschen Pflegeheimen und ähnlichen Einrichtungen, die ich besucht habe. Ich verwende den Ausdruck ‚Pflegeheim‘ bewusst unscharf als Sammelbegriff für Einrichtungen, in denen pflegebedürftige Menschen über einen längeren Zeitraum, in den meisten Fällen bis zum Tod, betreut werden. Ich problematisiere das Wort ‚Pflegeheim‘ in dieser Arbeit nicht. Der Begriff ‚Heim‘ ist durch katastrophale Zustände in Kinder- und Jugendheimen, aber auch Altenheimen in der Vergangenheit belastet. Die Aufarbeitung dieser oft verbrecherischen Zustände und die Bemühungen um Verbesserungen sind notwendig. Die Bemühungen um Verbesserungen müssen weitergeführt werden, auch die Diskussion darüber, ob solche Einrichtungen heute überhaupt noch zeitgemäß sind, ist zu führen.9 Wenig halte ich von beschönigenden Umbenennungen. Ein Heim wird nicht alleine dadurch besser, dass es Seniorenresidenz, Pflegewohnhaus oder Geriatriezentrum genannt wird. Wenn ‚Heime‘ für pflegebedürftige Menschen wirklich das sind, was das Wort bedeutet, nämlich Orte der Geborgenheit, Sicherheit, an denen Leib und Seele sich beheimatet fühlen können, wird es nicht mehr nötig sein, ständig neue Bezeichnungen zu suchen.
Teil II behandelt verschiedene praktische Themen der Liturgie in Pflegeheimen. Es geht um Räume, in denen Gottesdienste gefeiert werden, um verschiedene Formen von Gottesdiensten oder die Bedeutung von Musik und Symbolen für die Feier von Gottesdiensten mit Menschen mit Demenz.
Teil III stellt die Frage, welche Rolle liturgische Angebote im Rahmen der Institution spielen, ob – und wenn ja, in welchem Sinn – sie notwendiger Bestandteil eines umfassenden Verständnisses von Pflege und Betreuung sind.
Methode
Papst Franziskus sagt in Evangelii gaudium 234-235 über das Verhältnis von Idee und Wirklichkeit: „Die Wirklichkeit steht über der Idee. Die von der Wirklichkeit losgelöste Idee ruft wirkungslose Idealismen und Nominalismen hervor, die höchstens klassifizieren oder definieren, aber kein persönliches Engagement hervorrufen. Was ein solches Engagement auslöst, ist die durch die Argumentation erhellte Wirklichkeit.“10 Diesem Gedanken fühle ich mich methodisch verpflichtet.
Die Beschäftigung mit der Frage, was demenzgerechte Liturgie in Pflegeeinrichtungen heute ausmacht, basiert auf einer qualitativen empirischen Forschung in zwei Schritten. In einem ersten Schritt habe ich die zuständigen Referentinnen und Referenten für Seelsorge in Altenheimen in österreichischen und deutschen Diözesen angeschrieben und sie darum gebeten, einen kurzen Fragebogen an die hauptamtlichen Seelsorger und Seelsorgerinnen in diesem Bereich zu schicken.11
Die Rücklaufquote dieser Umfrage war gering: Es kamen aus Österreich acht Antworten von Pflegeheimseelsorgerinnen und –seelsorgern (einige Fragebogen kamen von anderen Personen beantwortet zurück, diese habe ich bei der Auswertung nicht berücksichtigt), davon einer aus der Diözese Innsbruck, zwei aus der Diözese Graz-Seckau und fünf aus der Erzdiözese Wien.
Direkt aus der Zielgruppe meiner Befragung kamen aus Deutschland nur fünf Antworten, obwohl ich mich bemüht habe, alle zuständigen diözesanen Stellen zu kontaktieren – eine aus Augsburg, eine aus Würzburg, eine aus Bentheim (Diözese Osnabrück), eine aus Köln, und eine aus Aachen.12
In einem zweiten Schritt habe ich Gottesdienste in Einrichtungen besucht und Gespräche mit an der Gestaltung beteiligten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen geführt. Insgesamt war ich in zwölf Institutionen, drei in Deutschland und neun in Österreich. Ich habe dabei acht Gottesdienste besucht und vierzehn Gespräche geführt und protokolliert. Meine Gesprächspartnerinnen und -partner waren neun hauptamtliche katholische Seelsorgerinnen und Seelsorger – unter ihnen ein Priester –, sowie ein pensionierter Priester, der in dem Heim wohnt und priesterlichen Dienst versieht, zwei Ärzte, je eine Musiktherapeutin, eine Sozialbegleiterin und eine Mitarbeiterin mit verschiedenen Aufgaben in der Betreuung mit Schwerpunkt auf Seelsorge und Sterbebegleitung. Eines der Gespräche konnte aus gesundheitlichen Gründen nur in schriftlicher Befragungsform durchgeführt werden.13
Die Auswahl der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner macht deutlich, dass hier eine Vorentscheidung getroffen wurde, die nur eine von vielen möglichen Varianten ist. Eine grundlegende methodische Schwierigkeit dieser Arbeit ist es, dass die Menschen, die eigentlich Auskunft geben könnten, ob Gottesdienste demenzgerecht sind, als Gesprächspartnerinnen zu komplexeren Themen nicht in Frage kommen.14 Ich hätte mich ganz auf die Beobachtung von Menschen mit Demenz beschränken können, wofür die Methode der dichten Beschreibung ein gutes Instrument gewesen wäre.15 Ich hätte Gespräche mit Menschen am Beginn des Demenzprozesses führen können, die durchaus dazu in der Lage sind. Ich hätte Angehörige miteinbeziehen können. Am besten wäre es gewesen, all das und noch mehr zu tun. Daran haben mich meine beschränkten zeitlichen Möglichkeiten gehindert.
Auf der Suche nach einer geeigneten qualitativen sozialwissenschaftlichen Methode haben mich die von Roland Girtler in seinen Methoden der Feldforschung vorgeschlagenen Vorgehensweisen überzeugt.16 Ihnen liegt ein stärker am Verstehenwollen als an „Unterscheiden, Vergleichen, Messen, Kategorisieren, Analysieren“17 orientiertes Wissenschaftsverständnis zugrunde, das ein Eintauchen in die Lebenswelt der Menschen, um die es geht, erforderlich macht. An seinem Forschungsplan orientiert habe ich Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen geführt, die professionell im Bereich der Seelsorge in Einrichtungen der Altenpflege tätig sind. Meine Hoffnung hat sich bestätigt, dabei auf Menschen zu treffen, die sich schon viele Gedanken darüber gemacht haben, wie gute Liturgie mit alten Menschen, die von Demenz betroffen sind, gefeiert werden kann. In ihren Einrichtungen habe ich als teilnehmender Beobachter Gottesdienste mitgefeiert und protokolliert.18
Als langjähriger Seelsorger im Krankenhaus und Pflegeheim gehe ich selbstverständlich mit einem ‚Vorverständnis‘ an die wissenschaftliche Arbeit heran und kann nicht so tun, als würde ich als distanziert agierender Wissenschaftler wissenschaftliche Hypothesen verifizieren oder falsifizieren. Girtler bemängelt, dass dieses „Vorverständnis bzw. Alltagswissen des Forschers […] bei den Verfahren, bei denen ‚Hypothesen aufgestellt und getestet‘ werden, kaum oder nicht reflektiert“ wird.19 Die Methode Girtlers ermöglicht es, das Vorverständnis als Ressource einzubringen, wobei natürlich „das eigene Vorverständnis einer dauernden Prüfung unterzogen wird“20. Der Forscher „muss die Demut aufbringen, sich überraschen zu lassen und von seinen vorgefassten Interpretationen abzurücken. Das ist allerdings erst dann möglich, wenn ein intensiver Kontakt zu den betreffenden Menschen besteht.“21
Neugier