Vergessen und Erinnern. Franz Josef Zeßner-Spitzenberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Josef Zeßner-Spitzenberg
Издательство: Bookwire
Серия: Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429062378
Скачать книгу
Bühne und bewerfen Jesusgesicht mit Handgranaten. In diesem Augenblick begann direkt neben uns ein Pfeifkonzert und laute Rufe, ohrenbetäubend gemeinsam mit dem Lärm der Handgranaten: „So eine Schweinerei!“, „Das ist keine Kunst!“. Ein Freund, der mit mir die Vorstellung besuchte, war überzeugt, auch dieser Protest wäre Teil der Inszenierung. Er diskutierte mit den jungen Leuten und musste einsehen, dass es wirklich eine Gruppe von jungen Katholikinnen und Katholiken war, die ihrer Empörung Ausdruck verliehen. Unter ihrem lautem Protest endete das Stück damit, dass hinter dem zu diesem Zeitpunkt zerstörten Gesicht Jesu ein Satz lesbar wurde, der abwechselnd zu lesen war als: „You are my shepherd.“ und „You are not my shepherd.“

      Nach der Vorstellung sprachen wir vor dem Theater noch eine Weile mit den Jugendlichen: Was motiviert Christinnen und Christen gegen dieses Stück zu protestieren. Handgranaten auf das Gesicht Christi? Ja, das wohl auch. Im Gespräch wurde aber doch deutlich, dass es vor allem darum ging, dass menschliches Elend so schonungslos vorgeführt wird. Menschen, die ein Kreuz um den Hals tragen, wollen einen nackten alten Mann voll Kot auf der Bühne nicht sehen. Und doch provoziert christlicher Glaube bis heute genau damit: „Wir dagegen verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit“, so Paulus im 1. Korinther-Brief (1,23). Das Stück Sul concetto di volto nel Figlio di Dio provoziert auch mich mit der Frage: Hältst du es aus? Bleibst du da? In welchem Antlitz erkennst du das Gesicht des Sohnes Gottes?

      Ich schreibe dieses Buch als Seelsorger in einem Pflegeheim. Szenen wie die von Castellucci dargestellte sind Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, nicht fremd. Lotte Hochrieder habe ich Ende 2012 kennengelernt, nachdem sie ins Pflege- und Sozialzentrum Rennweg eingezogen war. Zu diesem Zeitpunkt lebte sie schon in einem fortgeschrittenen Stadium von Alzheimer-Demenz. 2005 wurde sie noch zur stellvertretenden Vorsitzenden des Pfarrgemeinderates ihrer Pfarrgemeinde gewählt. Damals hat sie im Pfarrblatt geschrieben:

      „So bin ich im Laufe der Jahre in das Pfarrleben hineingewachsen und habe verschiedene Aufgaben und Verantwortung übernommen. In Zeiten, wo es mir nicht gut ging, habe ich Halt in der Pfarrgemeinschaft gefunden. Das Vertrauen der Asperner freut mich, da sie mich bereits zum zweiten Mal als Stellvertretende Vorsitzende des PGR gewählt haben. […] Eines ist mir wieder ganz klar geworden. Gott geht mit mir Wege, die ich nicht vorausplane. Doch entscheidend ist, diese Wege mitzugehen wie ein Kind, das seinem Vater die Hand reicht zum Mitgehen. Zuerst innerlich ein wenig widerspenstig, aber dann doch voll Vertrauen. Er ist ja mein Vater und er hat mich unendlich gern. Was ich mir wünsche, ist eine große Bereitschaft für dieses ‚Leben in Fülle‘, das Gott mir – uns – immer wieder anbietet.“2

      Zwei Jahre nach Ende der Pfarrgemeinderatsperiode, für die sie gewählt wurde, kann Lotte Hochrieder solche Gedanken nicht mehr formulieren. Sie kann kaum noch sprechen und geht unermüdlich den Gang des Wohnbereiches, in dem sie ihr Zimmer hat, auf und ab. Den Weg durch diese Jahre zu gehen, „an der Hand des Vaters“, muss sehr schwer gewesen sein und ist es bis heute, besonders für die Menschen, die Lotte Hochrieder nahestehen. Wie kann man ihre Worte von damals heute verstehen? Dem Beobachter könnten zynische Gedanken kommen über den Vater, der seinen geliebten Kindern diese Art von „Leben in Fülle“ beschert.

      Alte, pflegebedürftige Menschen sind eine gesellschaftliche Gruppe, die in vielfacher Weise in Gefahr ist, vergessen und übersehen zu werden, und das, obwohl ständig vom Wachstum dieser Gruppe die Rede ist: Die Wirtschaft interessiert sich für sportliche Aktiv-Senioren und Seniorinnen als kaufkräftige Gruppe (Stichwort ‚erfolgreiches Altern‘) und prägt ein Bild des Alters, das Krankheit, Verfall und Tod ausblendet. Wenn der zuständige diözesane Fachbereich von ‚Altenpastoral‘ in ‚Seniorenpastoral‘ umbenannt wird, wie in der Erzdiözese Wien geschehen, deutet das in die gleiche Richtung. In der politischen Diskussion sind alte, pflegebedürftige Menschen primär als Kostenfaktor präsent. Und aus Kirchengemeinden verschwinden Menschen, wenn der gesundheitliche Zustand sich verschlechtert – oft gemeinsam mit ihren pflegenden Angehörigen, die keine Zeit mehr haben, diesen Kontakt zu halten. Unter meinen Kolleginnen und Kollegen in der Seelsorge erlebe ich auch, dass Arbeit auf der Psychiatrie, in Intensiv- oder Palliativstationen eine höhere Reputation genießt als die Arbeit in der Geriatrie. Ganz ähnlich geht es Pflegenden und anderen Berufsgruppen in diesem Bereich.

      Die Präsenz in Zeitschriften, Filmen und Büchern hat Demenz gesellschaftlich ins Gespräch gebracht, auch interessant gemacht. „Die Demenz nimmt zu, kriecht aus allen Ecken der Gesellschaft, wird zum Medienstar“, konstatiert der Theologe und Soziologe Reimer Gronemeyer. „Talkshows, Filme, Erfahrungsberichte – und vor allem Projekte, Projekte, Projekte und noch mal Projekte. Das Thema Demenz wird gerade in einer medialen Massenschlacht enttabuisiert. Aber die eine Frage, die tabuisierte, die verheimlichte Frage: ob die Demenz etwas mit der Gesellschaft, in der wir leben, zu tun hat – die darf nicht gestellt werden.“3

      Peter Pulheim und Christine Schaumberger fordern eine Bekehrung von Seelsorge und Theologie zu Menschen mit ‚Demenz‘. Sie schreiben dazu: „Menschen mit ‚Demenz‘ sind in zweifacher Hinsicht vom Vergessen bedroht: Sie werden marginalisiert und ‚unsichtbar‘ gemacht, und sie verlieren ihr Gedächtnis und ihre Erinnerungen. Die Kirche steht daher in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass diese Menschen, ihre Erfahrungen und Erinnerungen nicht verloren gehen. Wenn Menschen mit ‚Demenz‘ und ihre Erfahrungen in Gemeinden und theologischen Texten fehlen, steht die Kirche als Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft auf dem Spiel.“4 Vergessen werden diese Menschen leicht, und da ihre ‚Krankheit‘5 das Vergessen ist, ist es für sie schwer bis unmöglich, sich selbst eine Stimme zu geben und ihre Situation selbstbestimmt in die Hand zu nehmen. Mit Peter Pulheim und Christine Schaumberger halte ich es für eine politische, eine gesellschaftliche, eine pastorale und eine theologische Notwendigkeit, sich diesem Thema verstärkt zuzuwenden, und mit diesem Buch möchte ich einen Schritt in diese Richtung tun.

       Problemstellung und Aufbau

      Ich habe für dieses Buch den Ansatz bei der Liturgie gewählt: In meiner täglichen Arbeit als Seelsorger im Pflegeheim feiere ich regelmäßig mit Menschen Gottesdienst, die einer Predigt nicht folgen können, die kein Gesangbuch lesen können, die die Fähigkeit zu sprechen und Sprache zu verstehen teilweise oder ganz verloren haben. Meine Aufgabe ist es dabei, darauf zu achten, dass die besonderen Bedürfnisse der Gemeindemitglieder in der Art, wie gefeiert wird, ernst genommen werden. Kann Liturgie ermöglichen, dass Menschen, die vieles, fast alles, vergessen haben, auch in ihrer Demenz erfahren: „Der Herr ist mein Hirte“? Bietet der Gottesdienst eine Möglichkeit, dass Lotte Hochrieder auch heute noch etwas von dem spüren kann, was sie vor einigen Jahren als gesunde Frau im Pfarrblatt geschrieben hat: „Er ist ja mein Vater und er hat mich unendlich gern.“? Oder zumindest dafür, ihrer Verzweiflung und Verlassenheit einen angemessenen Ausdruck zu verleihen? Sind Gottesdienste in Pflegeheimen Orte und Zeiten, in denen für Menschen, die an Demenz leiden, „tatsächlich etwas von der tröstenden, hilfreichen und verstörenden Nähe Gottes aufscheint“6, wie es Doris Nauer formuliert?

      Welche Fragen das Thema Demenz an theologische Reflexion stellt, möchte ich im Teil I behandeln. Wichtig ist mir in diesem ersten Teil, das Feld abzustecken, auch wenn die einzelnen Themen nur angerissen und nicht in ihrer Tiefe ausgelotet werden können. Als Folge einer Demenz vergessen Menschen immer mehr. Biologie, Medizin, Psychologie und Psychotherapie können Gründe und Ursachen dafür erforschen. Theologisch betrachtet ist die Frage, warum ein Mensch am Ende seines Lebens seine Erinnerungen verliert und im schlimmsten Fall Jahre in einem Pflegeheimbett „vegetiert“ (Naomi Feil verwendet diesen Ausdruck für das vierte Stadium der Demenz)7, eine Entfaltung der Frage nach Gottes Güte, die angesichts menschlicher Leiden fragwürdig wird. Es ist eine spezifische Entfaltung, die sich wesentlich von der Frage nach dem Leiden von Kindern, wie sie Camus in der Pest oder Dostojewskij in den Brüdern Karamasow stellen, unterscheidet, wo die Unschuld der Opfer die Frage zuspitzt. Oder von der Frage nach Gott angesichts der Shoah, die in ihrem unfassbaren Ausmaß die Deutungen radikal in Frage stellt, die das jüdische Volk im Lauf der Geschichte für seine leidvollen Erfahrungen gefunden hat8, und auch siebzig Jahre danach – vor allem im deutschen Sprachraum – den Denkrahmen für jedes Nachdenken über die Theodizeefrage bildet.

      In