Die praktische Erziehung war oft ein Ausdruck des jeweils zeitgenössischen Menschenbilds. „Die Seminare waren […] vor dem Erfahrungshintergrund des Versagens der Jugend und des Klerus im Zeitalter der Reformation entstanden; das zugrundegelegte pessimistische Menschenbild war fast Allgemeingut“223. Spätestens nach der abgeschlossenen Seminarerziehung sollte dieses Menschenbild auf den Priester aber nicht mehr zutreffen. Die Seminare sollten so nicht nur für die gründliche Ausbildung der zukünftigen Priester sorgen, sondern sie auch vor dem Bösen bewahren, das durch die Erbsünde in der Welt war. Die Jugend sei den weltlichen Gelüsten ausgeliefert und deshalb zu Frömmigkeit und Religiosität zu erziehen, bevor die Gewohnheit zum Schlechten von ihr Besitz ergreife. Die Pädagogik war eng mit der Theologie verknüpft: Die Offenbarung diente als „universelles Erziehungs- und Bildungsprogramm, Gott und Christus erscheinen als Menschheitserzieher, die Kirche als Erziehungsanstalt und die Sakramente als Erziehungsmittel.“224 Analog zu Gott als Heilsgeber und dem Menschen als Heilsempfänger war auch das Verhältnis von Erzieher und Zögling klassisch hierarchisch strukturiert.225 Primäre Aufgabe der Erziehung war die Heilsvermittlung. „Erziehung wird zur Erlösung aus der durch die Erbsünde bedingten grundsätzlichen Sündhaftigkeit. Ziel der christlichen Erziehung ist die Schaffung des übernatürlichen Menschen, sie will den Zögling zur Ähnlichkeit mit Christus führen“226. Ohne die rechte Unterweisung könne die Jugend nie vollkommen werden.227
Vor dem Hintergrund eines solchen Menschenbildes überraschte es nicht, wenn die verantwortlichen Bischöfe die jeweilige Seminarordnung ihrer Diözese entsprechend streng ausgestalteten.228 Ein weltabgeschlossener Erziehungs- und ein autoritativer Führungsstil waren die Konsequenz.229 Regelungen waren der Überzeugung geschuldet, es festige einen Menschen, ihn – zumindest zeitweise – allen möglichen herausfordernden Erfahrungen zu entziehen.230
„Sieht man im Zögling vor allem jemanden, der zum Bösen neigt, so wird man bestrebt sein, ihn autoritär zu lenken und zu leiten und so vor dem Fall zu bewahren. Da man grundsätzlich Mißtrauen hegt, werden Überwachung und Kontrolle zu wichtigen Erziehungsmitteln. Eigeninitiative und individuelle Lebensgestaltung sind dagegen nur wenig gefragt; man unterbindet sie eher, als daß man sie fördert.“231
Als Vorbild für die Priesterseminare dienten oft Klöster, sowohl architektonisch als auch in Fragen des Erziehungsstils.232 Bereits die Knaben sollten in Seminaren „von der übrigen Welt streng abgesondert“233 werden, verbunden mit der tridentinischen Auflage, „zur angemesseneren Unterweisung in der kirchlichen Disziplin […] sofort die Tonsur und das klerikale Gewand“234 zu tragen. „Die Buben werden streng erzogen, gleich beim Eintritt […] in einen langen Talar gesteckt, ein Stehkragen kommt darauf, und der Bub wird in nicht zu geringen Abständen kahlgeschoren, regelmäßig noch einmal vor den Ferien, damit er sich seines Berufes stets bewußt bleibt.“235 Hinzu kamen meist strikte Besuchsregelungen, die an die klösterliche Klausur erinnerten236, und Ausgangsregeln für die Seminaristen: Man ging prinzipiell gemeinsam aus, aber immer strikt getrennt nach Jahrgängen. Das Ziel war vorher festzulegen. Privatausgänge waren nur mit einer Sondergenehmigung möglich und nur unter der Bedingung, dass ein von der Seminarleitung bestimmter Alumne zur Begleitung dabei war. Auch die Rückkehr war zu melden.237 Alles war auf eine Bewahrung vor möglichen negativen Einflüssen aus der Umwelt ausgerichtet und sollte „die Formung zum geistlichen Stand erleichtern.“238
In nahezu allen Seminaren gab es äußerst detaillierte Regelungen für die geistlichen Übungen, z. B.
„[d]as Brevier, das schon seinem Aufbau nach eher für religiöse Kommunitäten bestimmt ist,. [sic!] wurde zumindest teilweise ‚im Chor‘ verrichtet. Das stark betonte Element der Kontemplation (Betrachtungspunkte, Betrachtung), das fast ständige Stillschweigen im Haus und die Tischlesung bei Mahlzeiten seien als weitere Einzelelemente angeführt.“239
Ein Hauptmerkmal der verschiedenen Seminarordnungen war das strenge Zeitreglement. Die einzelnen Tage waren bis hin zu Halb- und Viertelstunden genau geordnet und vorgegeben.240 Das Ziel der Erziehung war nicht die Selbstständigkeit, sondern der Gehorsam.241 Unterordnung und Gehorsam gegenüber Vorgesetzten standen im Seminar an oberster Stelle.242 Es war selbstverständlich, dass die Alumnen den Anordnungen des Seminardirektors (Regens) Folge leisteten. Ebenso hatten sie „die erteilten Ermahnungen und Ratschläge vertrauensvoll anzunehmen, so wie sie später einmal selbst dem ihnen anvertrauten Volk Gehorsam lehren müssen.“243
Der konkrete Erziehungsstil im Seminar war auch ein Abbild der hierarchischen Struktur der Kirche, indem die Seminare von „oben nach unten strukturiert“244 waren. Die höchste Instanz war der Bischof, in dessen Namen auch die Statuten erschienen. Seine Stelle im Seminar vertrat der Regens. Die Seminaristen standen ihm als Erziehungsobjekte gegenüber.245 Damit lag es in der Natur der Sache begründet, dass auch das Reglement des Tagesablaufs „von oben“ vorgegeben und dem Betroffenen kein Mitspracherecht eingeräumt wurde.246 Der Bischof hatte zudem die Aufgabe, die Einhaltung der von ihm erlassenen Seminarordnung zu überwachen. Das tridentinische Seminardekret forderte ihn zu regelmäßigen Visitationen auf und verlangte, „Schwierige und Unverbesserliche und Verbreiter schlechter Sitten [hart zu] bestrafen […], nötigenfalls sogar durch Hinauswurf. Indem [die Bischöfe; J. S.] alle Hindernisse entfernen, bemühen sie sich mit Sorgfalt um alles, was nach ihrer Meinung zur Erhaltung und Förderung einer so frommen und heiligen Einrichtung dient.“247
Andere Vorgaben des Dekrets waren in der Praxis hingegen deutlich schwieriger umzusetzen. Beispielsweise die Personalfrage bedeutete in den kommenden Jahrzehnten größere Probleme und diese Schwierigkeit traf die Ausbildung der Seminaristen im Kern.248 Es fehlten die notwendigen Erzieher mit praktischen Erfahrungen aus dem Bereich der Seminarerziehung,249 zumal hier nicht nur theologisch gebildete und pädagogisch erfahrene Kräfte gefragt waren, „sondern auch solche, die durch einheitliche Methode und durch längeres Verbleiben bei ihrer Aufgabe die Kontinuität der neuen Einrichtung gewährleisten konnten.“250
Im 19. Jahrhundert kam es zu ernsthaften Streitigkeiten über die Frage der richtigen Priesterausbildungsstätte. Infolge der Säkularisation 1803 schrieb die staatskirchliche Politik den Priesterkandidaten das Universitätsstudium vor, das „nun [seinen] kirchlichen Charakter verloren hatte“251. Neue Ausbildungsstätten für die akademische Priesterausbildung wurden nach politischen Aspekten ohne kirchliche Mitwirkung errichtet.252 Es war „[d]as Bestreben des Staates, die Priesterausbildung unter seine Kontrolle zu bekommen und den bischöflichen Einfluß auf die Priestererziehung möglichst zu beschränken.“253 Staatlicherseits wollte man die Kandidaten „zum Nutzen für das Staatsgebilde […] erziehen; sie sollten zu Volkslehrern der Sitten und der Religion ausgebildet werden. Die geistlich-spirituelle Formung der Seminaristen wurde deshalb ganz hintangestellt.“254 Das entsprach nicht dem universalkirchlichen Anspruch, die Priesterausbildung nur nach eigenen Schwerpunkten, Tdealen und Zielen zu gestalten. Diese Konfliktsituation führte zu einer antiuniversitären Exegese des Trienter Seminardekrets. Seit dem Wiener Kongress wurde
„[d]ie ursprüngliche Absicht der Konzilsväter, wenigstens eine Grundausbildung auch für die ärmeren Alumnen