Das politische Ritual einer öffentlichen Kranzniederlegung – mit dem ganz persönlichen, intuitiven Zusatz des Kniefalls durch Willy Brandt – zeigt, welch wertvollen Beitrag öffentliche Rituale zur Versöhnung zweier Völker haben können. Interessant bleibt, dass Willy Brandt intuitiv auf eine religiös besetzte Geste, den Kniefall, zurückgegriffen hat. Versöhnung bzw. Heilung bleibt ein Prozess, der Rituale braucht. Und: Rituale und Symbole sind interpretationsbedürftig. Stefan Zweig – lebte er noch – hätte diesen Kniefall sicherlich in sein Buch Sternstunden der Menschheit aufgenommen.
Impuls
Im Blick auf die jüngere Geschichte fallen Ihnen vermutlich weitere Beispiele ein, bei denen Rituale unübersehbare Markierungen des gesellschaftlichen Wandels und manchmal der punktuellen Heilung setzten, wie zum Beispiel der Marsch der Blackpower-Bewegung nach Washington 1963 mit Martin Luther Kings Rede I have a dream, Hungerstreiks politischer Gefangener in totalitären Regimen, die Fridays-for-Future-Aktionen oder Mahnwachen.
Retrospektive eines Psychotherapeuten
Ein Vertreter dieser Zunft, geprägt von Carl Gustav Jung, beendet seine berufliche Tätigkeit. Lorenz Wachinger blickt zurück und zieht ein Fazit in seinem Buch Wie Wunden heilen. Die Rückschau gilt nicht nur seinem Beruf, sondern auch seiner Person, dem Menschen mit seinen ganz persönlichen Kränkungen, Höhepunkten, Enttäuschungen – körperlich und seelisch. Es geht im Kern um Trauerarbeit im eigenen Leben wie in dem der Menschen, die sich ihm Hilfe und Heilung suchend anvertrauen.
Wachinger meint, es komme darauf an, dass aus dem Schmerz die Klage wird, dass sie sich äußern darf. Damit ist die Heilung schon in Gang gekommen. Die Heilung verlangt, dass der Mensch von seinen Verletzungen sein Leben verwandeln lässt. Seine Wunde schließt sich, insofern er seinen Weg geht und die Veränderung seines Lebens annimmt. Im Innersten besteht also der Heilungsprozess in einer Verwandlung.2 Da Wachinger ein Anhänger von C. G. Jung ist, spielt für ihn die Entdeckung des inneren Heilers, einer geheimnisvollen, tragenden Symbolfigur eine wichtige Rolle. Ein Weg zum inneren Heiler führt über individuelle Symbolbilder (auch in Träumen) und über Ur-Bilder der Menschheitsgeschichte. Der innere Heiler, der in jedem Verletzten wirkt, ist wichtiger als der Psychotherapeut. »Stärker als die therapeutischen Techniken ist die spontane Tendenz zur Heilung in jedem, der zu mir kommt«,3 lautet sein Resümee.
Zum Durchleben und Meistern von Krisen hält Wachinger ein großes Repertoire an Heilmitteln bereit: Übungen und Methoden wie Erinnern und Erzählen, Erschließen von Symbolen in Märchen und Heilungsgeschichten der Weltliteratur (auch der Bibel), Schweigen und Körperarbeit, Klagelieder und Klageriten, Gruppenwandern und Gruppenexerzitien, Labyrinthe begehen, zeichnen, (aus)malen und erschließen … ein ergiebiges Angebot!
In dieser Denkweise kann eine seelische Wunde heilen, wenn in einem Menschen der innere Heiler bzw. die Selbstheilungskräfte geweckt werden. Sie setzen den Prozess der Heilung oder Verwandlung in Gang und bringen ihn hoffentlich zum glücklichen Ende. Dabei spielen Rituale und Symbole eine unersetzbare Rolle. Dazu taugen auch Ur-Bilder, wie sie in der Literatur und auch in den Märchen der Völker zu finden sind.
Märchen sind mehr als Märchen
In den 1970er-Jahren gab es heftige Diskussionen über die Tauglichkeit von Märchen für Kinder. Bruno Bettelheim, geprägt vom Denken Sigmund Freuds, schaltete sich in die Diskussionen ein mit der These: Märchen sind unrealistisch, aber nicht unwahr. Es geht darin um die Wahrheit der Fantasie. Auch grausame Passagen bieten Lebenshilfe an, weil sie die Hoffnung wecken: Du kannst Bedrohliches meistern. Märchen sind mehr als Märchen; denn sie bieten beim Lesen bzw. Hören Identifikationsmöglichkeiten mit symbolhaften Gestalten wie Helden und Hexen und helfen so bei der Bewältigung von Gefühlen wie Angst und Aggression. Wir wollen dies an folgendem Märchen aufzeigen.
DIE DREI SPRACHEN
Ein Märchen der Brüder Grimm
Ein Graf war unglücklich über seinen einzigen Sohn. Er hielt ihn für dumm und schickte ihn in die Fremde zu einem Meister in die Lehre. Dort lernte der Sohn, was die Hunde bellen. Bei seiner Rückkehr fragte sein Vater: »Ist das alles?«, und schickte ihn zu einem anderen Meister. Bei ihm lernte der Sohn, was Vögel singen. Bei seiner Rückkehr fragte ihn sein Vater: »Ist das alles?«, und schickte ihn ein drittes Mal fort. Beim dritten Meister lernte der Sohn, was Frösche quaken. Als er es seinem Vater berichtete, geriet der in höchsten Zorn und befahl seinen Dienern: »Tötet ihn!« Die führten den Sohn hinaus, hatten aber Mitleid und ließen ihn gehen. Dann erjagten sie ein Reh. Mit dessen Blut täuschten sie den Grafen.
Der Grafensohn bat in einer Burg um Unterkunft. Der Burgherr gewährte sie ihm im alten Turm und warnte ihn vor den wilden Hunden dort: »Die bellen immerzu! An bestimmten Tagen fordern sie von uns ein Menschenopfer.« Alle Leute um die Burg herum bedauerten den Grafensohn. Der fürchtete sich nicht, sondern bat nur um Futter für die Hunde. Das gaben sie ihm und führten ihn zum Turm. Als er eintrat, bellte kein Hund. Sie wedelten mit ihren Schwänzen, fraßen, was er dabeihatte, und krümmten ihm kein Haar. Am anderen Morgen berichtete er dem Burgherrn: »Die Hunde erzählten mir ihre Geschichte. Sie wurden verwünscht und müssen einen Schatz hüten, solange er nicht entdeckt ist. Sie verrieten mir auch, was zu tun ist.« Da freuten sich alle. Der Burgherr versprach ihm seine Tochter, wenn er den Schatz fände. Er fand ihn. Da verschwanden die Hunde, und das Land war die Plage los. Die Tochter wurde ihm angetraut. Beide lebten glücklich.
Eine Zeit später brach der junge Graf auf nach Rom. Da geriet er in einen Sumpf, in dem Frösche quakten. Er hörte ihnen zu, wurde traurig, verriet seiner Frau aber nichts. Endlich erreichten sie Rom, wo gerade der Papst gestorben war. Die Kardinäle hatten sich soeben geeinigt: Neuer Papst könne nur der werden, an dem Gott ein Wunderzeichen wirkt. Ebenda betrat der Grafensohn die Kirche. Plötzlich flogen zwei weiße Tauben auf seine Schultern. Die Kardinäle erkannten darin ein Zeichen Gottes. Er selbst war unsicher, ob er würdig sei für dieses Amt. Doch die Tauben redeten ihm gut zu. Da er sagte: »Ja!« Damit erfüllte sich, was ihm die Frösche gesagt, ihn dadurch aber traurig gemacht hatten. Er sang die Messe und wusste kein Wort davon. Aber die Tauben flüsterten ihm alles ins Ohr. 4
Impuls
Zu diesem Märchen fallen Ihnen vielleicht folgende Fragen ein:
Was hat es mit diesen drei Sprachen auf sich?
Worauf will uns die Symbolsprache dieses Märchens hinweisen? Worin könnte die Heilkraft dieses Märchens bestehen? Kann ich mich mit einer Figur des Märchens identifizieren?
Wollen wir dieses Märchen interpretieren, können wir die gängige tiefenpsychologische Deutung nach C. G. Jung zugrunde legen:
• Dreimal muss der Sohn bei den verschiedenen Meistern in die Fremde ziehen und in die Lehre gehen. Damit beginnt eine dreistufige Wandlung. Sie vollzieht sich in ihm, während er drei Sprachen erlernt: die der bellenden Hunde, die der singenden Vögel und die der quakenden Frösche.
• Mithilfe der drei Meister wird der Sohn stufenweise vertraut mit drei Elementen: Erde, Wasser, Luft. Sie stehen für Vitalität, Unbewusstes und Geist. Er lernt die Kräfte der Natur kennen und schätzen, auch ihre Heilkraft. Er lernt, auf ihre Stimme zu hören, sie zu verstehen und ihnen zu trauen.
• Vor den bellenden Hunden zeigt er keine Angst; denn er beherrscht ihre Sprache und erfährt ihr Geheimnis: das Versteck des Goldschatzes. Damit ermutigt uns das Märchen: Lerne die bellenden Hunde in dir (Gefühle, Leidenschaften, Krankheitssymptome) verstehen. Nähere dich ihnen freundlich und nähre sie, dann wirst du erfahren, welcher Schatz dahinter verborgen ist: deine Verwandlung, dein Lebenssinn und -ziel.
• Mithilfe der Froschsprache kommt der Grafensohn mit Wasser, der Kraft des Unwägbaren und bislang Unbewussten, in Berührung. Sie eröffnet ihm jene neue Zukunft, die ihn in Rom erwartet. Noch schreckt er davor zurück: Kann er sich darauf verlassen? Welcher Verzicht verbirgt sich darin?
• Dank der Vogelsprache wird er vertraut mit den Geisteskräften. Sie geben ihm Zuversicht, Sicherheit