Nun leuchtet es durchaus ein, dass Lebewesen, welcher Art auch immer, an einem Platz verweilen, an dem sie üppige Nahrungsressourcen vorfinden. Wenn sich in unseren Breiten im Winter irgendwo Vögel scharen, dann dürfen wir stillschweigend annehmen, dass das vorgefundene Futter ihnen einen Anreiz für ihre Ansammlung bietet. Wildschweine drängen heute immer wieder in Vororte von Großstädten beziehungsweise Stadtaußenbezirke vor, weil sie sich dort an Gartenfrüchten und Abfällen gütlich tun können. Zum Ärger von Haus- und Gartenbesitzern fallen sie über Mülleimer, Komposthaufen und Gemüsebeete her. Warum sollten sie es sich bei der Nahrungsbeschaffung schwer machen, wenn es auch einfach geht?! Hat aber der Mensch, als er sich ursprünglich an bestimmten Orten niederließ, dort auch üppige Nahrung vorgefunden, die ihn zum ständigen Verweilen einlud?
Man nimmt oft an, dass der durch klimatische Veränderungen verursachte Mangel an Jagdwild während der letzten Eiszeit den Menschen dazu gezwungen habe, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben. Der Mensch entdeckte Wildpflanzen, auf die Vogelschwärme ihn aufmerksam machten, als sie zur Reifezeit einfielen. Den Ernährungswert dieser Pflanzen lernte der Mensch bald zu schätzen und begann sie als Getreide zu domestizieren. Er lernte Techniken, das Getreide zu bewahren und ganzjährig zu nutzen. Dies aber hatte zur Voraussetzung, dass er an Ort und Stelle blieb, Siedlungen – wenngleich zunächst in einfachster Form – errichtete. Da aber auch andere Tiere, vor allem Rinder, Ziegen und Schafe, das Getreide als Nahrungsquelle schätzen, kamen sie ihm als „Ernteräuber“ in die Quere. Dasselbe gilt auch für Schweine, die zwar nicht unbedingt Gerste oder Weizen fressen, sich aber, wie gesagt, an vom Menschen produzierten Abfällen delektieren. Nun wäre es, so kann man weiter argumentieren, für den Menschen auf Dauer zu mühsam gewesen, sich alle diese Tiere vom Leib zu halten, um seine Nutzpflanzen zu schützen. Besser war es, die Tiere sozusagen ins Haus zu holen und sie ebenfalls zu nutzen. Welch enorme Bedeutung die genannten Tiere – heutzutage vor allem Rinder und Schweine – als Nahrungslieferanten im Lauf der Zeit erlangt haben, bedarf keiner besonderen Erwähnung.
In den Augen des Münchener Zoologen und Evolutionsbiologen Josef Reichholf greift diese Erklärung für das Sesshaft-Werden des Menschen allerdings zu kurz. Er bringt daher Alkohol ins Spiel. Aus dem Vergleich heutiger und aus der Geschichte überlieferter Kulturen wird erkennbar, dass überall – in geringem oder höherem Maße – Rauschmittel, darunter Alkohol, ihre Rolle spielen und spielten. Nach Reichholf war es nicht der Mangel an Jagdwild, der den Menschen zur Sesshaftigkeit veranlasste. Es war die Entdeckung, dass aus bestimmten Pflanzen alkoholische Getränke hergestellt werden können, deren gemeinschaftlicher Genuss soziale Beziehungen zu stärken und die friedliche Beilegung von Konflikten zu erleichtern vermag. Daher soll Getreide erst sukzessive für die Ernährung genutzt, ursprünglich aber für die Herstellung von Bier verwendet worden sein. Also, im Anfang war der Rausch. Der musste sich allerdings in Grenzen gehalten haben, weil eine dauerhaft alkoholisierte Gesellschaft nicht lebensfähig gewesen wäre.
Das Sesshaft-Werden des Menschen war sicher ein sehr verwickelter Vorgang, an dem mehrere Faktoren beteiligt waren; und warum nicht auch Bier und Wein?! Sicher aber muss die Sesshaftigkeit unserer Spezies schon bald Vorteile gebracht haben, weil sie sich andernfalls – nur mit Nachteilen verbunden – als Lebensweise nicht bewährt hätte. Nachteile werden in der Evolution mittel- bis langfristig nicht belohnt. Gegenüber den Nomaden und Halbnomaden können die Sesshaften in der Gesamtbilanz ein ökonomisches Plus verbuchen. Reichholf (2012, S. 283) schreibt dazu Folgendes:
Menschen, die sich von den Früchten des Feldes und ihrer eigenen Hände Arbeit ernähren, brauchen kaum ein Zehntel des Lebensraumes, den Wanderhirten benötigen. Menschengruppen, die sich von Jagen und Sammeln ernähren, nehmen etwa das Hundertfache von Ackerbauern pro Kopf an Fläche in Anspruch. Hieraus ergibt sich das Anwachsen der Weltbevölkerung ganz von selbst. Gesteigerte Produktion von Nahrung ermöglicht das Überleben von mehr Menschen.
Aber wie in der Evolution so oft erweisen sich auch hier Vorteile von heute als Nachteile von morgen. Die problematischen Spätfolgen der Sesshaftigkeit sind inzwischen spürbar. Sie zeigen sich in einer rasanten, ungebremsten Bevölkerungsvermehrung, einer Überproduktion von Nahrungsmitteln auf der einen Seite, Hungersnöten auf der anderen.
Zwischen den Siedlungen der ersten Ackerbauern und Viehzüchter und den heutigen Megastädten liegen Welten. Doch der Prozess der Urbanisierung war, einmal in Gang gebracht, anscheinend nicht zu bremsen. Er entwickelte eine Eigendynamik, die niemand vorhersehen konnte, die aber den Menschen nun in seinem Wesen zu entwurzeln droht. Das ist Gegenstand späterer Kapitel des vorliegenden Buches. Zuvor müssen wir uns noch einer weiteren Seite unseres Wesens zuwenden, die tief in der Evolutionsgeschichte unserer Gattung verankert ist.
2.
DAS GEBORENE KLEINGRUPPENWESEN
So gern der Mensch alles aus sich selbst hervorzubringen wähnt, so sehr hangt er doch in der Entwicklung seiner Fähigkeiten von anderen ab.
Johann Gottfried Herder
Der Mensch ist von Natur aus ein soziales Lebewesen. Keiner von uns will das sprichwörtliche fünfte Rad am Wagen sein, sondern irgendwo dazugehören, sich als Teil einer Gemeinschaft wissen. Einsamkeit, Verlassen-Sein empfinden die allermeisten Menschen als schlimm. Auch das gehört zu unserem alten Primatenerbe. Primaten sind im Allgemeinen gesellige Tiere, die zum Teil sehr komplexe, hierarchische Sozialstrukturen entwickeln. Der Mensch ist dabei keine Ausnahme. Allerdings lebte er die längste Zeit in relativ kleinen, überschaubaren Gruppen; er ist das geborene Kleingruppenwesen.
Dieser Umstand ist für das vorliegende Buch von besonderem Interesse. Auf das Leben in anonymen Massengesellschaften war der Mensch nicht vorbereitet. Nun aber sieht sich der steinzeitliche Jäger und Sammler, der mit einem kleinen Haufen ihm bekannter und vertrauter Individuen herumstreifte, täglich einer Masse von ihm unbekannten Artgenossen gegenüber, von denen er nichts weiß und meist auch nichts wissen will. Die Grundmuster unseres sozialen Verhaltens – Wir-Gefühl, Freund-Feind-Denken, Kooperation, Bevorzugung (Vetternwirtschaft) – wurden in Kleingruppen gestrickt und haben sich in Jahrmillionen bewährt. Seine kleine Gruppe war für den Einzelnen identitätsstiftend und vermittelte ihm ein Gefühl der Vertrautheit, das ihm in der Massengesellschaft abhandenkommt. Hier begegnet uns also eine Konfliktsituation, die sich in der Gegenwart immer mehr verschärft. Der amerikanische Evolutionsbiologe Richard Alexander hat treffend bemerkt, dass im jüngsten Abschnitt seiner Evolutionsgeschichte die den Menschen hauptsächlich prägende feindliche Macht die Gegenwart anderer Menschen sei (die auch immer mehr werden).
WIE VIELE MENSCHEN VERTRÄGT EIN MENSCH?
Der britische Maler und Verhaltensforscher Desmond Morris ließ in den späten 1960er Jahren mit seinem Buch Der nackte Affe aufhorchen. Der Mensch, so legte Morris ausführlich dar, sei immer noch ein Affe – wenngleich einer mit stark reduzierter Körperbehaarung –, dessen Verhaltensweisen in seiner Stammesgeschichte tief verwurzelt sind und auf Schritt und Tritt seine evolutionäre Vergangenheit erkennen lassen. Wer unsere „äffische“ Abkunft akzeptiert – und nur ideologische beziehungsweise religiöse Motive können heute jemanden daran hindern –, wird sich natürlich nicht daran stoßen. Im Gegenteil, es ist doch faszinierend zu sehen, welchen evolutiven Weg unsere Gattung eingeschlagen, zu welchen geistigen Höhenflügen sie sich emporgeschwungen, welche Fähigkeiten sie kraft ihres Gehirns erworben hat; darunter die Fähigkeit, über ihre eigene Herkunft, ihr Wesen und ihre mögliche Zukunft nachzudenken. Aber im Herzen lebt unsere Gattung noch in der Steinzeit. Der vielleicht beste Beweis dafür ist ihr soziales Verhalten. In seinem erwähnten Buch schrieb Morris Folgendes dazu:
Selbstverständlich haben wir unsere Stammesgeschichte nicht deshalb durchlaufen, um in riesigen Zusammenballungen Tausender und Abertausender von Individuen zu leben. Unser Verhalten ist darauf abgestellt, daß es in kleinen Stammesgruppen von vielleicht weniger