Man verstehe mich nicht falsch. Ich will die Welt und das Leben unserer prähistorischen Ahnen keineswegs romantisieren oder verherrlichen. Das wäre auch gänzlich unangebracht. Aber unser Handeln, Denken, Fühlen und Wollen heute sind nicht unmaßgeblich geprägt von jenen in Äonen zementierten Verhaltensweisen, die unsere Vorfahren im Dienste ihres Überlebens zu entwickeln hatten. Nach wie vor geht es freilich in erster Linie bloß um das Überleben, doch sind die Rahmenbedingungen dafür in kürzester Zeit völlig andere geworden. Der heutige Mensch befindet sich in einem undurchsichtigen Geflecht institutioneller und ökonomischer Erfordernisse, welche die Möglichkeiten seines Überlebens entscheidend mitbestimmen und in gleichem Maße seinen eigenen Handlungsradius einschränken.
Wie ich bereits bemerkt habe, sind vor allem die letzten Jahrzehnte durch eine enorme Entwicklungsbeschleunigung unseres Lebens auf verschiedenen seiner Ebenen gekennzeichnet. Das hängt natürlich mit den modernen Kommunikationstechnologien zusammen, die uns erst in den 1990er Jahren in vollem Umfang zugänglich wurden und die von vielen heute gleichsam wie Rauschdrogen konsumiert werden. Kommunikation und Information, lebenswichtige Elemente unserer Existenz, haben inzwischen eine ins Perverse gesteigerte Qualität erreicht. Nie in der langen Evolutionsgeschichte unserer Gattung hatten so viele Menschen einen so direkten und schnellen Zugang zu so viel Information wie heute, doch nie war die Gefahr einer sehr raschen massenhaften Verdummung so groß wie derzeit. Die Massenmedien (die nicht umsonst so bezeichnet werden) überfluten uns mit sinn- und nutzloser „Information“. Das wäre an sich noch nicht schlimm, würden nicht viele Menschen jeden beliebigen Unsinn glauben und jeder noch so bedeutungslosen Meldung in jedem beliebigen Boulevardblatt allein deswegen Bedeutung zuordnen, weil sie „in der Zeitung steht“. In noch höherem Maße gilt das für das Internet. Die ungeheuren Kommunikationsmöglichkeiten, die uns die moderne Technologie in die Hand gibt, führen letztlich zu einer nie dagewesenen Kommunikationsarmut. Unserer Spezies, die auf Mitmenschlichkeit im kleinen Kreis angelegt ist, werden sie nicht gerecht. Aber vielleicht auch ist diese Spezies, durch ihr eigenes Zutun, zur Verdummung verurteilt …
Ich bitte den Leser um Geduld, auf alle hier angesprochenen Kennzeichen unserer Gegenwart wird noch ausführlich zurückzukommen sein, und ich werde es nicht bei bloßen Andeutungen bewenden lassen.
Aber wozu eigentlich dieses Buch? Die Antwort darauf kann schon aus dem Vorwort herausgelesen werden. Ergänzend dazu sei hier noch betont, dass es mir auch darum geht, die Tragweite des modernen Evolutionsdenkens aufzuzeigen. Wenn wir unsere lange Evolutionsgeschichte und die Prozesse, die sich dabei abgespielt haben, ernst nehmen, dann lässt sich schließlich die große Frage beantworten, warum wir Menschen so sind, wie wir sind. Und es lässt sich plausibel machen, dass die heutige Zivilisation diesem unseren „So-Sein“ immer weniger gerecht wird.
1.
DER GEBORENE NOMADE
Der Mensch war für alle Klimate und für jede Beschaffenheit des Bodens bestimmt; folglich mussten in ihm mancherlei Keime und natürliche Anlagen bereit liegen.
Immanuel Kant
Rund sieben Milliarden Menschen bevölkern heute die Erde. Gleichzeitig wächst die Bevölkerung weltweit um derzeit über 80 Millionen Menschen pro Jahr. Menschen tummeln sich vorwiegend in Ballungszentren, in Millionenstädten und sogenannten Megastädten, aber man findet sie auch nach wie vor in kleinen Siedlungen; sie bewohnen warme und kalte Regionen und vermögen selbst unter unwirtlichsten Bedingungen (zum Beispiel in der Nordpolregion) zu überleben. In den Jahrmillionen ihrer Evolution haben sich Menschen beziehungsweise „Menschenartige“ allmählich auf allen Kontinenten ausgebreitet und sind heute die einzige Primatenart mit weltweiter Verbreitung. Nur in der Antarktis haben sie sich nicht auf Dauer niedergelassen (Spuren hinterlassen haben sie allerdings auch dort). Dabei begann alles sehr bescheiden. Unsere ältesten Ahnen blieben zunächst auf den afrikanischen Kontinent beschränkt und lebten dort ziemlich unauffällig in Uferwäldern, wo sie sich von Pflanzen und kleineren Tieren ernährten. Später gewann vor allem die Jagd auf größere Tiere an Bedeutung. Schließlich, gemessen mit evolutionären Zeitmaßstäben erst vor Kurzem, wurden Menschen sesshaft und begannen Siedlungen zu bauen – und es wurde ein Prozess in Gang gesetzt, für den es in der Evolutionsgeschichte keine Präzedenzfälle gibt.
Das vorliegende Kapitel soll Lesern ohne nennenswerte anthropologische und evolutionsbiologische Vorkenntnisse wichtige Hintergrundinformation liefern. Es behandelt – in sehr gedrängter Form – die Herkunft und Entwicklung des Menschen und die Lebensweise unserer steinzeitlichen Ahnen. Wer aber über die Evolution des Menschen bereits hinreichend unterrichtet ist, kann dieses Kapitel getrost überschlagen. Allerdings liefert es Grundlagen für Argumente, die in späteren Kapiteln des Buches noch ihre Rolle spielen werden.
UNSERE „ÄFFISCHE“ ABKUNFT
Der heutige Mensch, Homo sapiens, ist eine von rund dreihundertfünfzig heute noch lebenden Arten der Säugetierordnung Primaten („Herrentiere“). Seine nächsten Verwandten sind Schimpanse, Bonobo (Zwergschimpanse), Gorilla und Orang-Utan. Spätestens seit Charles Darwin (1809 bis 1882) ist an der „äffischen“ Abkunft des Menschen ebenso wenig zu zweifeln wie daran, dass der Mensch „in seinem Körperbau immer noch die unaustilgbaren Zeugnisse seines niedrigen Ursprungs erkennen läßt“ (Darwin 1871 [1966, S. 274]). Aber, so ist gleich hinzuzufügen (und Darwin wusste es bereits sehr gut), auch in seinem Verhalten und Handeln, seinem Denken, Fühlen und Wollen schleppt der Mensch nach wie vor seinen „äffischen“ Ursprung mit sich herum. Der Affe sitzt ihm fest im Nacken, er kann seine eigene Herkunft und Vergangenheit nicht einfach abstreifen. Das ist aus evolutionsbiologischer Sicht eigentlich nicht weiter aufregend, weil auch alle anderen Arten ihre stammesgeschichtlichen „Bürden“ nicht abwerfen können. Aber uns Menschen betrifft dieser Umstand in besonderem Maße; und manchen macht er betroffen, denn es ist nach wie vor nicht jedermanns Sache, seine Spezies bloß als ein Glied in der langen „Tierkette“ zu wissen.
Noch bevor Darwin – auf der Basis umfassender Befunde aus verschiedenen ihm zugänglichen wissenschaftlichen Disziplinen – den Menschen in die Evolution der Tierwelt einreihte und seine enge Verwandtschaft mit dem Schimpansen und dem Gorilla herausstellte, hatten schon zwei andere Naturforscher Klartext gesprochen: der Engländer Thomas H. Huxley (1825 bis 1895) und der Deutsche Ernst Haeckel (1834 bis 1919). Beide waren, im Gegensatz zu Darwin (dem zurückhaltenden „Revolutionär“), sehr beredte und streitbare Geister; Huxley war Darwins großer Fürsprecher und Verteidiger in seiner Heimat („Darwins Bulldogge“), Haeckel sorgte für die Verbreitung der Ideen Darwins in Deutschland. Beide erschütterten den in unserer Geistesgeschichte tief verwurzelten Glauben an die „Sonderstellung“ des Menschen in der Natur. Daran halten noch viele unserer Zeitgenossen fest. Nimmt man aber die Ergebnisse der modernen Anthropologie und Primatenforschung ernst, dann muss man zugeben, dass sich die Grenzen zwischen dem Menschen und seinen nächsten Verwandten mehr und mehr verwischen.
Selbstverständlich kann niemand leugnen, dass sich der Mensch allein schon in anatomischer Hinsicht (aufrechter Gang, stark vergrößertes Gehirn) von den übrigen Primatenarten durchaus unterscheidet (und natürlich auch von allen anderen Säugetierarten, vom großen Rest des Tierreichs ganz zu schweigen). Und in praktisch allen kognitiven Leistungen (Denkvermögen, Lernen, Sprache) ist der Mensch sämtlichen anderen Arten weit überlegen. Aber wie der Neurobiologe Gerhard Roth betont, lässt sich daraus keine wirkliche Einzigartigkeit ableiten,
denn beim Menschen gibt es nichts, was nicht in einigen