(Roth 2010, S. 393 f.)
Außerdem bleibt festzuhalten, dass die „menschliche Eigenart“ schon deswegen nichts Einzigartiges ist, weil sich jede Spezies in einer mehr oder weniger großen Anzahl von Merkmalen von allen anderen unterscheidet. So gesehen könnte auch der Blauwal – wenn er denn könnte – eine Sonderstellung in der Natur für sich reklamieren, nämlich wegen seiner enormen Körpergröße und seines ebenso enormen Körpergewichts. Und wie einzigartig müsste sich, wenn er sich darauf besinnen könnte, der australische Koala oder Beutelbär mit seinem unverwechselbaren Aussehen vorkommen, welches noch von seiner spezifischen Ernährungsweise (dem Fressen von nährstoffarmen, für die meisten Pflanzenfresser unbekömmlichen Eukalyptusblättern) flankiert wird …
Es sollte überflüssig sein zu bemerken, dass weder Darwin noch irgendein anderer ernsthafter Evolutionsforscher behauptet hat, der Mensch stamme von einer der heutigen Affenarten ab. Vielmehr war stets von gemeinsamen Vorfahren die Rede. Aus heutiger Sicht ist davon auszugehen, dass sich die Evolutionslinien des Schimpansen, des Gorillas und des Menschen vor etwa acht bis fünfeinhalb Jahrmillionen getrennt haben und die zum Orang-Utan führende Linie noch einige Millionen Jahre früher ihren Anfang nahm. Funde von entsprechenden Fossilien aus neuerer Zeit legen nahe, dass Menschen – Hominini im Sprachgebrauch der modernen Paläoanthropologie – also ein stammesgeschichtliches Alter von über fünf Millionen Jahren aufweisen. Charakteristisch für Menschen war dabei von Beginn an der aufrechte Gang, die Bipedie, also die Fortbewegung auf nur zwei – den hinteren – Extremitäten. Der Erwerb des aufrechten Ganges kann freilich nicht über Nacht erfolgt sein, sondern muss sich – hier fast wörtlich gesagt – schrittweise vollzogen haben, wie in der Entwicklung eines Kindes, allerdings in viel größeren Zeiträumen. Prähistorische Primaten, die sich ähnlich den heutigen Schimpansen zumindest vorübergehend allein auf den hinteren Extremitäten fortbewegen konnten, haben wohl die Anfänge dieser Lokomotionsform markiert. Im Übrigen ist es natürlich schwer, Menschen von anderen prähistorischen Primaten scharf abzugrenzen. Wir haben es hier mit fließenden Übergängen zu tun. Aber die Hominisation oder Menschwerdung im engeren Sinn erfolgte offenbar mit der Entwicklung der zweibeinigen Fortbewegungsweise. Ein weiteres ihrer charakteristischen Merkmale ist die auffallende Vergrößerung des Gehirns, die vor allem auf dem Niveau der Gattung Homo (siehe unten) beschleunigt einsetzte und vermutlich durch eine maßgebliche Verbesserung der Ernährungssituation gefördert wurde. Das Gehirn nämlich benötigt im Vergleich zu seiner Größe beziehungsweise seinem Volumen sehr viel Energie. Man muss aber umgekehrt auch davon ausgehen, dass der Mensch mit der Vergrößerung seines Gehirns und mithin einer Steigerung seiner kognitiven Leistungen seine Ernährungssituation verbesserte. Denn er war imstande, immer effizientere Techniken der Nahrungsbeschaffung und schließlich Nahrungszubereitung (Kochen, Garen) zu entwickeln.
Insgesamt hat man sich den Prozess der Menschwerdung als einen komplexen Vorgang der Wechselwirkung verschiedener Faktoren vorzustellen, die voneinander nicht zu trennen sind. Es ist also müßig darüber zu streiten, was den Menschen eigentlich zum Menschen gemacht hat. Sicher hat die Vergrößerung seines Gehirns – von ursprünglich etwa vierhundert Kubikzentimetern auf mehr als das Dreifache innerhalb von rund zwei Jahrmillionen – den Menschen zu ganz entscheidenden Innovationen befähigt. Das Gehirn ist der Sitz unserer Persönlichkeit, unseres jeweils spezifischen (individuellen) Denkens, Fühlens und Wollens. Aber der Prozess der Gehirnentwicklung ist in ein komplexes Faktorengefüge eingebettet. Er hängt mit anatomischen Änderungen ebenso zusammen wie mit ökologischen Anforderungen, klimatischen Umständen und sozialer Konkurrenz. Die Evolution des Menschen insgesamt war also kein geradliniger Vorgang, sondern ein sehr komplizierter Prozess, der sich auf vielen verschlungenen Pfaden vollzogen hat.
JÄGER UND SAMMLER
Wenig umstritten ist, dass Menschen in langen Etappen ihrer Evolution nomadisierend als Jäger und Sammler gelebt haben. Der aufrechte Gang erwies sich bei der Jagd zweifelsohne als erheblicher Vorteil. Als nicht geringer aber ist jener Vorteil einzustufen, den die von der Fortbewegung befreiten Vorderextremitäten dem Menschen boten. Unsere Hände sind universell brauchbare Instrumente. Wir können uns mit ihnen nicht nur festhalten, sondern sie erweisen uns bei der Handhabung von Gegenständen unschätzbare Dienste. Sie erlauben uns, die Feder zu führen, einen Stein mit Meißel und Hammer zu bearbeiten, Klavier zu spielen und vieles mehr. In Verbindung mit einem immer größer werdenden Gehirn und mithin wachsenden Intelligenzleistungen dienten die Vorderextremitäten dem prähistorischen Jäger und Sammler zur Herstellung von immer effizienteren Werkzeugen. Diese ermöglichten ihm, wie gesagt, die Nahrungsbeschaffung und später durch den Gebrauch des Feuers auch die Zubereitung von Nahrung und wirkten sich positiv auf die Bewältigung seines Lebens aus. In der Konkurrenz mit Raubtieren um Beute brachten Waffen wie Steinschleudern oder Speere dem Menschen entscheidende Vorteile. Während beispielsweise Löwen, Tiger, Wölfe oder Bären ihre Beute nur in direktem Kontakt zu ihr und mittels ihrer Pranken und Zähne schlagen können, vermag der Mensch mit Waffen, also gewissermaßen außerkörperlichen Organen, seine Beute aus der Distanz zu erlegen. Obendrein dienen ihm seine Waffen dazu, sich die Raubtiere einigermaßen vom Hals zu halten und so in der Konkurrenz mit ihnen um Nahrung Vorteile zu gewinnen.
Die lange Zeit beliebte These, dass der Mensch von Anfang an ein Jäger gewesen sei und die Jagd seine weitere Evolution gleichsam determiniert habe, ist allerdings nicht mehr haltbar. Vieles spricht dafür, dass die ältesten Hominini in (feuchten) Uferwäldern lebten, die ihnen ein relativ breites Nahrungsspektrum boten: neben verschiedenen Pflanzen beziehungsweise Früchten leicht zu fangende, im Wasser lebende Tiere (zum Beispiel Krebse). Temporär und saisonal bedingt werden sie ihre Biotope aber auch verlassen haben, um sich nach weiteren Nahrungsressourcen umzusehen. Es ist ein lange gehegtes, ein wenig romantisch verklärtes Bild: Ein vierbeiniger, auf Bäumen kletternder Affe stieg von den Bäumen herunter, trat aus dem Wald in die Savanne und richtete sich allmählich auf, womit er zum Menschen wurde. So einfach war es sicher nicht. Die Hominisation erfolgte in verschiedenen Etappen. Unsere ältesten menschlichen Ahnen waren der Bipedie zwar mächtig, beherrschten aber das Klettern noch sehr gut und begaben sich gern auf die Bäume zurück (wo sie auch, noch nicht mit wirkungsvollen Werkzeugen ausgerüstet, Schutz vor manchen Feinden fanden). Der Hang zum Klettern ist uns erhalten geblieben. Welches Kind klettert nicht – wenn man es denn noch lässt! – auch heutzutage gern auf einen Baum …
Kaum zu bestreiten ist jedoch, dass der Mensch während eines beträchtlichen Zeitraums seiner Evolutionsgeschichte, über zwei Millionen Jahre, nomadisierend als Jäger und Sammler gelebt hat. Er ist also der geborene Nomade. Besser sollte man vielleicht sagen: Halbnomade. Denn es liegt nahe, dass sich die steinzeitlichen Jäger und Sammler vorübergehend auch niedergelassen haben, und zwar vor allem an Orten, die ihnen ausreichende Nahrungsressourcen boten. Es wäre ja eine Verschwendung von Energie gewesen, herumzuwandern, wenn das zum Fressen Benötigte in unmittelbarer Umgebung zumindest saisonal verfügbar und das Aufspüren von Ressourcen in größerer Distanz mit Unwägbarkeiten verbunden war. Und man kann mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen: Nichts lag unseren steinzeitlichen Ahnen ferner, als überflüssige Anstrengungen zu unternehmen oder sich unnötigen Risiken auszusetzen. Ihr Leben war ohnedies hart genug. Die auf die Antike zurückgehende Vorstellung eines „goldenen Zeitalters“ irgendwann in grauer Vorzeit und die noch von Jean-Jacques Rousseau (1712 bis 1778) vertretene und verteidigte Idee, dass im „Naturzustand“ alles gut gewesen sei und der Mensch in seinem Urzustand glücklich gelebt habe, sind schöne Märchen. Dagegen stellte bereits der Arzt und Philosoph Ludwig Büchner (1824 bis 1899), der populärste Vertreter des Materialismus seiner Zeit, treffend Folgendes fest:
So schön und tief empfunden die Paradies-Sage oder diejenige vom goldenen Zeitalter ist, ebenso unwahr und der Phantasie entsprossen ist sie doch. In Wirklichkeit hat es niemals einen paradiesischen Zustand der Menschheit gegeben, sondern ganz im Gegentheil einen elenden, erbärmlichen Zustand unseres ältesten Vorfahren oder des Urmenschen, aus welchem sich derselbe nur sehr allmählich befreit hat, … nicht durch Göttliche Hülfe,