1.2 Zur Orientierung. Die strategischen Prinzipien
Lean wird in Diskussionen oder Fachbeiträgen häufig auf einfach klingende Prinzipien oder Methoden reduziert. Dies ist der Sache nicht unbedingt dienlich. Das wichtige und leider vielfach unbeachtete Prinzip der Ganzheitlichkeit werde ich im Kapitel 1.4 etwas ausführlicher besprechen. In den folgenden Abschnitten möchte ich noch kurz auf einige weitere Denkhaltungen eingehen, die grundsätzliche Orientierung für die Lean Reise geben.
Sachorientierung vor Wertorientierung
Sachorientierung vor Wertorientierung bedeutet, zuallererst auf Strukturen und Prozesse zu schauen, um diese schlank zu machen. Auch wenn die Erfolge vor der Umsetzung der Maßnahme in Prozessen nicht genau rechenbar sind, so werden die Zahlen später dennoch folgen.
Es wird niemals möglich sein, alle Veränderungen in Prozessen oder in einem Netzwerk in Geldgrößen rechnen zu können. Das ist mit Blick auf die betriebswirtschaftliche Notwendigkeit maximal unbefriedigend. Rückblickend betrachtet wurde viel investiert in Berater, in eine Lean-Organisation, in Zeit von Mitarbeitern, die sie in Workshops verbracht haben. Aber es kommt gerechnet nichts dabei heraus. Das ist ohne Frage ein absolut ärgerlicher und auch nicht zu akzeptierender Zustand. Denn es ist unstrittig, dass Lean Leistung und Effizienz erhöhen will. Und wer etwas anderes behauptet, liegt völlig daneben. Denn „schöner Wohnen“ war Lean noch nie. Und zunächst sollten Sie also alles daransetzen, um die Wirkungen rechenbar zu machen.
“If you can’t measure it, you can’t manage it.”
Ein alter Spruch, der jedoch nach wie vor gilt. Natürlich geht es am Ende auch darum, Kosten zu senken. Das heißt aber nicht zwangsläufig, dass es zielführend ist, Finanzkennzahlen zu messen. Im Gegenteil.
Aus betriebswirtschaftlicher Sicht können Kosten als bewerteter Ressourcenverzehr betrachtet werden. Der Ort, an dem dieser Verzehr stattfindet, heißt Prozess. Also ist es legitim und naheliegend, Prozesskennzahlen zu betrachten, um sich daraus ergebende finanzielle Ergebnisse messen und vor allem steuern zu können.
Obwohl sich Ergebnisse in dem einen oder anderen Fall nur schwer bewerten lassen, sollten Sie versuchen, stets geeignete Kennzahlen zur laufenden Messung zu finden. Diese sollten das angestrebte Ergebnis wie gewünscht abbilden können und im Idealfall einfach zu erheben sowie zu pflegen sein.
Mit Weitblick messen. Ein Beispiel
In einem Unternehmen der Medizintechnik wurde ein Produktionsbereich als Pilot für eine Lean-Einführung ausgewählt. Das Ziel war eine Produktivitätssteigerung von 10 Prozent. Dem Berater standen Grunddaten zur Verfügung, auf Basis derer er am Ende des Workshops lediglich eine Produktivitätssteigerung in Höhe von 5,9 Prozent prognostizieren konnte. Darüber sprach er mit dem Operations-Leiter. Beide waren sich einig, dass die Grunddaten nicht alles erfasst haben konnten und waren sicher, dass sich die 10 Prozent Produktivitätssteigerung einstellen würden. Man verschwendete also keine Energie damit, Zahlen „zurechtzubiegen“, sondern kümmerte sich weiter um die Verbesserung der Prozesse. Nach wenigen Wochen ergab das Ergebnis der ersten Ist-Auswertung eine Produktivitätssteigerung von 12,8 Prozent.
Es gibt jedoch auch Beispiele der anderen Art. Wenn ein Lean-Trainer von einem Controller aufgefordert wird, die Potenziale einer 5S-Aktion auszuweisen, so dürfte die langfristige Einführung von Lean schwierig werden. Zum einen, weil sich nicht bei jeder Maßnahme Potenziale im Vorhinein sicher prognostizieren lassen. Und zum anderen, weil sich Effekte manchmal erst im Zusammenwirken unterschiedlicher Maßnahmen einstellen. Dies macht es schlicht unmöglich, Erfolge 1:1 nur einer durchgeführten Maßnahme zuordnen zu wollen.
Wer in den Prozessen das Richtige tut, wird auch die richtigen Zahlen bekommen.
Können Sie Effekte nicht rechnen, sind jedoch fest davon überzeugt, dass die geplanten Maßnahmen die richtigen sind, sollten Sie diese auch umsetzen. Anschließend sind die Prozesse dann genau dahin zu steuern, wo Sie sie nach der Veränderung haben möchten. Aber Vorsicht: Häufig geschieht es, dass das Management „einem Fluss ein neues Flussbett gibt“, es jedoch nicht gelingt, „das Wasser umzuleiten“. So ist es auch in vielen Prozessen. Das Management investiert in neue Betriebsmittel, Anlagen o.ä., erkennt aber nicht, dass die Mitarbeiter entweder nach alten Verhaltensweisen weiterarbeiten oder dass sie lediglich „Verschwendung tauschen“, indem sie die höhere Effizienz für längere Pausen oder andere ineffiziente Tätigkeiten verwenden. Hier ist ein Auge gefragt, das diese Prozesse sieht und Verschwendung erkennt. Flankierend ist die gezielte Führung der Mitarbeiter nötig. Denn schließlich sollen sie ja alte Gewohnheiten ablegen und die neuen Möglichkeiten nutzen.
Das bedeutet, dass Sie wissen müssen, welche Veränderungen in den Prozessen tatsächlich bewirkt werden sollen. Wenn Sie mit der Umsetzung von Maßnahmen im Sinne der schlanken Philosophie Verschwendung reduzieren möchten, sich Effekte de facto jedoch nicht einstellen, so erzeugen Sie lediglich den angesprochenen Verschwendungstausch. Das passiert öfter als Sie vielleicht denken. Es werden Maßnahmen umgesetzt, und das Projektteam kann nicht sicher sagen, was sich in den Prozessen verändern wird oder verändern soll. Dies gilt auch bei der Anwendung von Methoden. Angewendet sind sie schnell. Wenn das Team aber nicht weiß, warum sie angewendet werden, wird es das gewünschte Ergebnis niemals realisieren. Wird dieses Vorgehen einige Male wiederholt, dann ist das Ende vom Lied das frustrierte Statement „Lean ist bei uns nicht wirkungsvoll“. Dass ein Verständnisdefizit vorliegt, wird in den seltensten Fällen gesehen.
Ein ebenso typisches wie häufiges Beispiel ist hier wiederum die Anwendung der Methode 5S. Wenn diese nur nach dem Motto „Ordnung und Sauberkeit“ betrieben wird und nicht als bewusstes Mittel, um Zeitbedarfe für unnötige Tätigkeiten oder Zeitschwankungen innerhalb von Tätigkeiten oder dem Arbeitsumfeld zu reduzieren, so tauscht man Verschwendung durch überflüssiges Suchen o.ä. für Verschwendung durch überflüssige Wartezeiten ein – ein Nullsummenspiel.
Das Problem der Kalkulation von Einzel- und Gemeinkosten
Man kann es gar nicht oft genug betonen: Im Zusammenhang mit Lean wird stark in systematischen und langfristigen Wirkungen gedacht. Ich habe jedoch mehr als einmal die Kritik gehört, dass die monetäre Darstellung von Effekten häufig dann fehlleitet, wenn mit nicht angepassten traditionellen Methoden kalkuliert wird. Somit wären wir bei dem Problem der Kalkulation von Einzel- und Gemeinkosten angelangt.
Nochmals: Kosten sind ein in monetären Größen ausgedrückter bewerteter Ressourcenverzehr. Zu Ressourcen zählen Material, Arbeitszeit von Personal oder Maschinen, Flächen u.a.m. Sie werden durch die Prozesse, die sie nutzen, verzehrt und verursachen Kosten.
Ein einfaches Beispiel
Würde in einem Arbeitsbereich bei den Einzelkosten eine Steigerung von einem Euro anfallen, in den Gemeinkosten jedoch zwei Euro gespart werden, so treten in diesem Zusammenhang mindestens zwei Probleme auf. Zum einen werden Gemeinkosten häufig als pauschale Zuschlagsätze verrechnet. Deshalb kann zwar der Ressourcenverzehr sachlich abnehmen, doch der zugerechnete oder (noch schlimmer) zugeschlüsselte Zuschlagssatz bleibt gleich. Kosten werden zwar real gesenkt (weil der Ressourcenverbrauch reduziert wurde), bleiben gerechnet jedoch gleich. Damit stehen wir bei einem Euro mehr Einzelkosten, ohne gerechnetes Delta bei den Gemeinkosten. Aus diesem Grund ist es empfehlenswert, langfristig das Controlling-System