Macht ein Kind innerhalb genau dieser drei Jahre traumatische Erfahrungen – dazu gehören bereits Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen genauso wie frühkindliche Krankenhausaufenthalte oder schmerzhafte Erlebnisse –, so bildet sich hierdurch beim Kind eine besonders hohe Sensibilität für potenzielle Gefahrensituationen aus. Hier liegt der Ursprung von Traumatisierungen. Nicht später! Die Wochen um die Geburt herum scheinen der Zeitraum zu sein, in welchem die Schwelle für empfundene Lebensgefahr am niedrigsten ist. Gefahren oder schlechte Nachrichten haben deshalb generell in unserer Wahrnehmung einen höheren Stellenwert als gute Nachrichten, weil ein Mensch ohne Positivmeldungen zumindest überleben kann – in Gefahr ist dies jedoch fraglich. Bis ins dritte Lebensjahr hinein verfügt ein Kind noch nicht im Geringsten über die kognitiven Fähigkeiten, die uns Menschen so erfolgreich Erlebtes verarbeiten lassen, aber dennoch – und das ist das Tragische – merkt sich das kindliche Gehirn alles, was es erlebt, und es vergisst nichts – schon gar nicht Angst machende Dinge. Im Zeitraum von rund drei Monaten ab der Geburt scheint die Sensitivität für Traumatisierungen sogar am höchsten zu sein.
Doch bereits in der dritten Schwangerschaftswoche – zu dieser Zeit weiß eine Mutter meist noch gar nicht, dass sie schwanger ist – beginnt das Herz zu schlagen, und die ersten Nervenzellen entwickeln sich. Mit Letzteren sind wir in der Lage, chemische Unterschiede aus dem mütterlichen Blut in unserer Umgebung zu registrieren. Allerdings gibt es in der Gebärmutter noch nicht allzu viele spürbare Unterschiede – es ist für den Follikel immer einigermaßen gleich warm und gleich dunkel. Doch ab diesem Zeitpunkt ist der kleine Zellknubbel, der zweieinhalb Wochen später unser Nervenzentrum ist, bereits in der Lage zu spüren, ob sich Stresshormone, Glückshormone, Schlafhormone oder etwa Drogen in seiner Umgebung befinden. Das Kind tritt in Interaktion mit dem mütterlichen Körper. Es beginnt – im weitesten Sinne – zu denken. Nach weiteren sechs Wochen etwa nennt man diesen kleinen Haufen von Nervenzellen, der sich stetig weiterentwickelt, bereits Gehirn.
Im Alter von etwa fünf Monaten bekommt das Kind sogar eine ganz genaue Vorstellung davon, ob es im Bauch willkommen oder etwa ungewollt ist. Es braucht sich lediglich beim mütterlichen Organismus bemerkbar zu machen, beispielsweise indem es sich herumdreht oder von innen gegen die Bauchdecke der Mutter tritt. Das tut es ab diesem Zeitraum für gewöhnlich und bekommt darauf die Antwort seiner Mutter in Form von Neurotransmittern, die durch die Nabelschnur direkt zum embryonalen Gehirn rasen und ihm die gleichen Gefühle ermöglichen, die seine Mutter empfindet. Entweder sie freut sich, ihr Kind zu spüren, dann bekommt dieses einen Endorphinstoß, der als Glücksgefühl wahrgenommen wird, oder sie ist verzweifelt, weil sie gar kein Kind will, dann spürt der Embryo einen Adrenalinstoß. Dieses Stresshormon wird von einem Ungeborenen fast wie ein Stromschlag empfunden. Wenn das Kind diese Erfahrung ein paar Mal gemacht hat, schlussfolgert es, dass es offenbar eine ganz schlechte Idee ist, sich allzu deutlich bemerkbar zu machen. In der Zeit vor der Geburt ist Stress nicht subjektiv interpretierbar und wird daher vom Embryo als absolut wahrgenommen! Die Ursache aller stressbedingten Symptome ist folglich hier zu finden.
Konditionierung
Damit sind wir im Bereich der Reiz-Reaktions-Verknüpfungen oder auch Konditionierungen. Das Prinzip der Konditionierung lässt sich recht einfach beschreiben: Sie spüren etwas (etwa einen kleinen Stromschlag), worauf Sie mit dem unbeschreiblichen Gefühl eines Elektroschocks (starkes Unwohlsein und Erregtheit) reagieren, und zeitgleich nehmen Sie etwas Bestimmtes wahr, das Ihnen bislang völlig gleichgültig war (vielleicht die an sich bedeutungslose Lautfolge Zick). Je öfter das geschieht, desto eher glauben Sie, dass das bislang Gleichgültige Ihr Gefühl erzeugte: Das heißt, Sie zucken bereits zusammen, wenn Sie nur das Wort Zick hören. Durch das ständige Zusammentreffen beider Reize wird die emotionale Bedeutung des ersten Reizes einfach auf einen weiteren Reiz ausgeweitet. So kommt es, dass Menschen tatsächlich glauben, Zigarettenrauch würde das Ausschütten von Glückshormonen erzeugen, obwohl ihnen jeder Nichtraucher beim Einatmen von Qualm etwas husten und somit bestätigen würde, dass der Qualm keineswegs glücklich macht. Der Raucher ist darauf konditioniert, dass Rauchen offenbar nur Erwachsenen erlaubt ist und in kleinen Pausen stattfindet: Er fühlt sich, sobald er qualmt, frei von Erwartungsdruck.
Dabei zeigt sich, dass wir voller Konditionierungen sind. Beispielsweise bekommen fast alle Menschen einen Adrenalinstoß, wenn man sie anschreit – dabei ist eine laute Stimme keinesfalls bedrohlich, wie jeder bestätigen kann, der schon einmal einen Operntenor live singen hörte. Das eigentlich Bedrohliche an einer lauten Stimme haben Menschen oftmals bereits im Mutterleib erfahren, wenn die eigene Mutter von Eltern, Partnern oder jemand anderem angeschrien wurde oder selbst Grund zum erregten Schreien hatte. Mütterliche Stresshormone werden zeitgleich mit der lauten Stimme, die das Kind im Bauch ja deutlich vernimmt, ausgestoßen – und das auch nur, weil früher bei der Kindeserziehung nicht nur geschrien, sondern auch geschlagen und verletzt wurde. So differenziert und nachhaltig können sich Konditionierungen auswirken.
Nun wissen Sie, dass Sie im Umgang mit lernfähigen Kindern sehr behutsam sein müssen, da diese nach kurzer Zeit automatisch davon ausgehen, dass A und B zusammengehören. Die Konditionierung ist leider ein unglaublich mächtiger Faktor beim Erlernen von Verhaltensweisen – sie begleiten einen Menschen oft ein Leben lang. Daraus resultierende Verhaltensmuster nehmen ihren Ursprung in der Kindheit und werden durch Wiederholung, Bestätigung und tiefe emotionale
Eindrücke verstärkt und unterbewusst auf weitere Reize generalisiert. In Zusammenhang mit Stress lassen sich Konditionierungen übrigens wesentlich effektiver, nachhaltiger und schneller schaffen als mit Glücksgefühlen – das korrespondiert mit dem, was ich weiter oben bereits erwähnte: Stress hat eine höhere Relevanz für uns (→ Seite 30). Solche unterbewussten Verknüpfungen lassen sich jedoch dank der hier beschriebenen Coachingtechniken gut und schnell wieder auflösen.
Beispiele: Erlernte Reiz-Reaktions-Paare
Orale Stimulation und Mutterliebe werden so lang verknüpft, bis das Kind tatsächlich glaubt, ein Schnuller im Mund würde beruhigen, und womöglich bis zum Lebensende das Gefühl hat, bei Stress durch Einsamkeit oder Hilflosigkeit etwas essen zu müssen – selbst wenn der Körper bereits übergewichtig ist. Eine Wespe oder Biene braucht uns nur einmal zu stechen oder überbesorgte Eltern wedeln aufgeregt rufend mit einer Zeitung herum und warnen das nichtsahnende Kind – schon werden wir bereits beim Anblick einer völlig harmlosen gelb-schwarzen Schwebfliege oder Hummel ängstlich. Das sogenannte Fremdeln bei Babys, die beim Anblick eines bärtigen Mannes anfangen zu weinen, lässt sich oft darauf zurückführen, dass der Mundschutz der Geburtshelfer, die vom Kind als stressauslösend empfunden werden, an einen Bart erinnert. Wenn dann also Wochen später ein bärtiges Gesicht auftaucht, befürchtet das Baby erneut nachgeburtliche Untersuchungen mit schmerzhaften Blutentnahmen und unkomfortablen Prozeduren.
Erforscht wurde die immense Verknüpfungsfähigkeit des Gehirns übrigens bereits Anfang des letzten Jahrhunderts vom russischen Naturforscher und Nobelpreisträger Iwan Pawlow (1849 – 1936). Dieser stellte fest, dass immer dann, wenn er seine Laborhunde füttern wollte, die Tiere in freudiger Erwartung aufsprangen, noch bevor er die Näpfe gefüllt hatte. Er untersuchte diese Beobachtung wissenschaftlich. Dazu schlug er ein kleines Glöckchen an, kurz bevor er den Tieren etwas zu fressen gab. Dies setzte er drei Wochen lang täglich fort und kontrollierte dabei, wie die körperliche Reaktion der Hunde auf das Glöckchen ausfiel. Dazu maß er in einem kleinen Röhrchen den Speichelfluss des Tieres, eine Reaktion auf das zu erwartende Futter. Anfangs reagierten die Hunde auf den Ton noch nicht mit Speichelfluss. Mit dem Glockenton wurde noch nichts Weiteres verknüpft. Doch bereits nach drei Wochen konnte er beobachten, dass die Hunde schon allein auf den Glockenton mit Speichelfluss reagierten. Der Körper des Hundes zeigte eine Reaktion. Pawlow hatte nur das Glöckchen angeschlagen und gar kein Futter ausgeteilt, trotzdem bekamen die Hunde Speichelfluss