Öfters wird Vorderstift erwähnt, eine Örtlichkeit im Weichbild von Oberplan, ein Grenzort zum Wald hin. Der herrschaftliche Förster, „in dessen Reviere der erste Jagdplaz lag“ (408,23–24), lebt dort, und auch die Herrschaften übernachten vor der Netzjagd im dortigen „Jägerhause“ (409,17–18), um „dem Jagdschauplaze näher zu sein“ (409,18). Das festliche „Mittagsmahl“ (415,9) nach der Jagd findet vor diesem Hause statt. Ebenso lebt in Vorderstift der alte Schmied,35 der erst von der Netzjagd in seiner Jugend zu erzählen weiß (406,19–21) und am Schluss das letzte Wort hat, um die Geschichte von Hanna und Hanns autoritativ zu deuten (432,23–25).
Es wird eine Differenz zwischen Oberplan und den Dörfern in seiner Umgebung angedeutet. Zuerst den Bewohnern von Oberplan wird der Glaube zugeschrieben, das Gebet zum Gnadenbild am Erstbeichttag werde „in Erfüllung gehen“ (391,11). Ebenso stammt der Blinde, der geheilt wird, aus Oberplan (386–387). Auch beeindruckt das Jagdfest besonders die Einwohner Oberplans; sie vor allem lassen sich von der Jagdgesellschaft verwirren. Die „Bewohner von Pichlern“ (419,23–24) dagegen sind vom Jagdfest weniger betroffen, weil sie „weniger in Berührung mit den Gästen kamen“ (419,24). – Dieser Teil hat den Rahmen skizziert, in dem sich die Geschichte von Hanna und Hanns abspielt. Um zu verstehen, warum sie dem Erzähler wichtig ist, sei von einer charakteristischen Wendung ausgegangen.
2. „Außerordentliche Schönheit“
In der Buchfassung des „Tännling“ findet sich an insgesamt zehn Stellen das Wort „außerordentlich“, das in der Journalfassung überhaupt nicht vorkommt. Es erscheint stets in Verbindung mit Hanna und der Jagdgesellschaft und empfiehlt sich daher als ein Schlüssel zur Interpretation der Buchfassung. Besonders charakteristisch ist die Wendung „außerordentlich schön“ bzw. „außerordentliche Schönheit“, die viermal vorkommt.
Zuerst bei der Milchbäuerin, „die wegen ihrer außerordentlichen Schönheit berühmt war. Sie trug immer die Milch, die sie den fernen Arbeitern auf einer Wiese zur Labung brachte, über den Kreuzberg. Weil sie aber den Worten eines Geistes kein Gehör gab, wurde sie von ihm auf ewige Zeiten verflucht“ (384,3–7). An ihrer Stelle stehen am Kreuzberg „die seltsamen Felsen [...], die noch jezt den Namen Milchbäuerin führen“ (384,8–10).
Mit folgender Bemerkung wird Hanna, ohne dass ihr Name genannt wird, in die Handlung eingeführt: „... ein Mädchen, [...] so außerordentlich schön, daß man sich kaum etwas Schöneres auf Erden zu denken vermag“ (390,27–29). Ebenso ist es bei Guido: „Da wollte es der Zufall, daß Hanna [...] neben einen außerordentlich schönen jungen Mann von vornehmem Stande zu stehen kam.“ (413,9–12) Auf dem abschließenden Tanzfest, an dem Hanna als Verlobte Guidos teilnimmt, heißt es schließlich von der adeligen Gesellschaft: „Die Herren und Frauen waren so schön, so außerordentlich schön, daß Alles, was man bisher gesehen hatte, nur ein Spielwerk und ein kindisches Ding dagegen war.“ (430,32–431,2)
Mit der Wendung „außerordentlich schön“ werden Zusammenhänge hergestellt, die den Leser leiten sollen. „Außerordentliche Schönheit“ ist es, die Hanna mit Guido zusammenführt und in die adelige Gesellschaft integriert. Sie ist für Hanna, Guido und die Jagdgesellschaft der Angelpunkt ihres Strebens und Handelns.
Hanna ist mit dem „Felsen der Milchbäuerin“ (386,1) ein Archetyp zugeordnet, der im Laufe der Erzählung mehrmals begegnet.36 Schon Hannas Gespräch mit ihren Gefährtinnen am Erstbeichttag, in dem sie vom Versprechen des Gnadenbildes erzählt, findet am Felsen der Milchbäuerin statt (393–394). Als Guido um Hanna wirbt, geht er mit ihr durch die Fluren; sie sitzen beide „auf den geraden und senkrechten Pfeilern des Felsens der Milchbäuerin“ (418,32–33) – vielleicht ein Bild für die abschüssige, gefährliche Situation, in die sie sich bringen. Man kann sagen: Die „außerordentlich schönen“ Gestalten stehen im Banne der Milchbäuerin, sie sind wie diese von einem Geist „verwunschen“ (384,8) und versteinert.
Noch an sechs anderen Stellen findet sich das Wort „außerordentlich“. Von Hanna wird erzählt, dass sie „außerordentlich reinlich“ ist (402,28). Wenn sie mit Hanns auf einem Tanzfest war, und andere Männer sie stundenlang beobachteten und „gleichsam“ mit ihren Augen verschlangen (403,13), „so hatte Hanns seine außerordentliche Freude darüber“ (403,13–14). Auf dem Heimweg danach umarmte sie ihn, „drükte ihn heiß an sich, sah ihn an und flüsterte gute Worte [..., und da war] eine außerordentliche unheimliche Seligkeit in ihm“ (403,17–19). Direkt anschließend erzählt ihm Hanna von der außerordentlichen Macht des Gnadenbildes (404,17). Die Ankunft der Jagdgesellschaft und das Jagdfest verwandeln das Volk, und „in Betracht der außerordentlichen Zeit“ (420,15–16) gibt der Grundherr seinen Holzarbeitern Urlaub, um sich das Jagdfest anzuschauen. Schließlich geschieht „das Außerordentliche [...]. Hanna wurde öffentlich als Guido’s Braut erklärt“ (430,11–13).
Die Wörterbücher unterscheiden zwei Bedeutungen des Wortes „außerordentlich“: 1) „... was außer der gewöhnlichen Ordnung ist oder geschieht“, 2) „ungewöhnlich“.37 Im Sinne dieser zweiten Bedeutung heißt es zweimal vom Volk: Es ist zum „Ungewöhnlichsten aufgelegt“ (413,29) bzw. es entsteht „eine ganz außergewöhnliche Stimmung“ (418,1–2). Doch es ist nicht sinnvoll, bei jeder Stelle zu fragen, welche Bedeutung das Wort hat. Fast ironisch spielt Stifter mit seiner Doppeldeutigkeit: Wer das Ungewöhnliche, das Besondere sucht, wird mit Konsequenz im Außer-ordentlichen enden, er wird die Grenzen der Ordnung sprengen – im moralischen und darin auch im sozialen Sinn.38
Es ist charakteristisch für Hanna, dass sie von Anfang an danach strebt, die Möglichkeiten, die ihr soziale Herkunft und dörfliche Gesellschaft einräumen, zu übersteigen. Einen reichen Hoferben zu heiraten, das wäre gerade noch möglich gewesen, so viel Anstoß es in der Nachbarschaft auch erregt hätte. Aber das genügt ihr nicht. Sie will mehr, so unwahrscheinlich das ist. Am Ende hat sie ihr Ziel erreicht. Sie ist dort angekommen, worum es ihr schon in ihrem Gebet am Erstbeichttag ging: in der Welt der Schönen, Angesehenen und Mächtigen. Auch Guido sprengt die Ordnung seines Standes, wenn er ein armes Dorfmädchen heiratet. Doch die Herren nehmen Hanna ohne Widerspruch in ihren Kreis auf. Am abschließenden Maskenball kann sie „schon [...] in dem kostbaren Gewande der vornehmen Frauen“ teilnehmen (431,8–9).39
Das Verständnis von Schönheit im „Tännling“ hat eine spezifische Eigenart. Der Gebrauch des Wortes „schön“ verbindet Schönheit und Kleidung.40 Körperliche Schönheit bedarf schöner, kostbarer Kleidung und vollendet sich in ihr. Das gilt schon für das Landvolk. Die Leute von Oberplan bemühen sich, schöne Kleider zu tragen – gerade auch Hanns.41 Hanna meint, mit ihrer Zuversicht einst „etwas sehr Schönes und sehr Ausgezeichnetes [zu] bekommen“ (394,11–12) – von Anfang an schöne Kleider. Hanns bemüht sich dann, ihr dazu und zu anderen schönen Dingen zu verhelfen.42 Dann erscheint die Jagdgesellschaft und mit ihr Guido.43 In ausgezeichneter Weise verbindet sich bei ihm körperliche Schönheit44 mit schöner Kleidung45 und schönen Gegenständen.46 Entsprechend erhält Hanna zur Verlobung von ihm schöne Kleider und Schmuck.47 Auch seine Standesgenossen legen Wert darauf, sich „gepuzt“ darzustellen.48 Bei der Netzjagd erscheinen sie „alle in vollem Puze“ (410,33), dessen Pracht ausführlich beschrieben wird. Ebenso sind die Zuschauer „sonntäglich gekleidet“ (411,23). Im überwältigenden Glanz des abschließenden Maskenballs stellt die Jagdgesellschaft ihre Schönheit bzw. ihre prachtvolle Kleidung zur Schau.49
Es sei auch darauf hingewiesen, dass Hanna eigentlich eine Schmarotzerin ist – wenngleich im „Tännling“ solche moralischen Wertungen fast ängstlich vermieden werden. Statt zu arbeiten, verlässt sie sich auf ihre Schönheit; erst hat sie sich von Hanns aushalten lassen, bei Guido ist es nicht anders. Diese Kritik trifft