Diese Jugenderfahrungen gehören zum Hintergrund von Stifters literarischem Schaffen. Von seiner ersten Erzählung „Julius“ (1829) bis zu den großen epischen Werken „Der Nachsommer“ (1857), „Witiko“ (1865/67) und den beiden letzten Fassungen der „Mappe meines Urgroßvaters“ (1864/68) tritt dem Leser ein breites Spektrum an Zeithorizonten vom 12. bis zum 19. Jahrhundert und von Handlungsräumen gegenüber: Böhmen, Österreich, Ungarn, Oberitalien bis nach Nordafrika und Ausblicken auf Kleinasien, Indien und Amerika, in denen die Thematik eine breite Vielfalt an Personen aus allen Ständen umfasst, seien es Fürsten, Ritter, Künstler, Naturforscher, Landwirte, Bauern und Häusler, Geistliche oder Ärzte bis hin zu Eigenbrötler-Naturen. Alles Erzählen von ihnen ist im Sittengesetz als dem „sanften Gesetz“ in Analogie und Erweiterung der Naturgesetze verankert. Darüber hinausgehend weisen die Schriften zur Literatur, bildenden Kunst, Pädagogik und Politik und damit zu allen Bereichen des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens und des Staates in erster Linie auf das Ethos des selbstverantwortlich sich bildenden Menschen. Dem entspricht die vom Dichter bis zum Lebensende vertretene Überzeugung der hierarchischen Einheit und Durchdringung von Religion, Kunst und Wissenschaft.
Darum geht es auch in dem von Stifter und Aprent 1854 veröffentlichten „Lesebuch zur Förderung humaner Bildung in Realschulen“. Stifter wollte mit diesem Werk in zwei Teilen „Von Außen“ und „Nach Innen“ mit jeweils 85 Texten aus dem Alten Testament über Homer, das Mittelalter, die Goethezeit bis zur Gegenwart – einschließlich eines eigenen Textes aus „Das Haidedorf“ – bewirken, dass „Edles Großes [ . . . ] in die Herzen der Jugend gesät werden solle“. Dennoch wurde das „Lesebuch“ vom Wiener Schulministerium, offenbar im Vorfeld des Konkordats im folgenden Jahr, durch welches die Schulaufsicht der Kirche übertragen wurde, aus vorgeblich formalen Gründen abgelehnt.
Die Formen christlicher Religiosität, die Stifter in seinen Erzählungen darstellt, bieten verschiedene Facetten: In den frühen „Studien“-Erzählungen „Das Haidedorf“ und „Der Hochwald“ (1844) zeigt sich eine schlichte und feste Frömmigkeit der ländlichen Bewohner. Dem steht im Spätwerk „Witiko“ das gewaltige historische Gemälde des christlichen Hochmittelalters zur Stauferzeit gegenüber. Die Schilderung „Die Charwoche in Wien“ (1841/44) in dem von Stifter selbst herausgegebenen Sammelwerk „Wien und die Wiener“ lebt im Atmosphärischen eines deskriptiven Realismus und der bildhaften Wiedergabe von Andacht und religiösem Gefühl als Kontrast zwischen hauptstädtischer Geschäftigkeit und ländlicher Frömmigkeit der südböhmischen Heimat. In derselben Textsammlung ist der Aufsatz „Ein Gang durch die Katakomben“ unter dem Stephansdom mit den Reflexionen über „Gott, Unsterblichkeit, Ewigkeit und das Universum“ weit mehr als ein schlichtes Memento mori. Eine Art von kosmischer Religiosität spricht auch aus der Beschreibung „Die Sonnenfinsternis am 8. July 1842“. Gewissermaßen zwischen den Polen dieser Texte stehen die späten Betrachtungen „Weihnacht“ und „Der Silvesterabend“ (1866).
In der „Bunte Steine“-Erzählung „Kalkstein“ (1853; Journalfassung 1847: „Der arme Wohlthäter“) steht das asketische Leben eines Pfarrers in karger Gebirgsgegend und sein über den Tod hinaus vorsorgendes Wirken für die Schulkinder im Mittelpunkt. Die Erzählung „Bergkristall“ in demselben Band (Journalfassung 1845: „Der heilige Abend“) nimmt in der nächtlichen Felshöhle der Gletscherwelt das kindliche Gottvertrauen angesichts der Himmelserscheinung des Nordlichtes in den Blick. Die „Mappe meines Urgroßvaters“ („Studien“-Fassung 1847) zeigt das kirchliche Leben im ländlichen Sozialgefüge der südböhmischen Waldgemeinden fest verankert, ohne dass es jedoch erzählerisch eine Vorrangstellung einnimmt. Doch sind darin der Lebensgang und das Wirken des Landarztes Augustinus in entscheidenden Situationen dem göttlichen Segen anvertraut, und der Dank für glückliche Fügung spiegelt sich in der Betrachtung des unendlichen Sternenhimmels.
In demselben Landschaftsraum wie die „Mappe“ in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts liegt im Umkreis von Stifters Geburts- und Kindheitsort Oberplan die Handlung des „Beschriebenen Tännling“ – nun in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Als letzte der „Studien“-Erzählungen (1850) nimmt sie eine vom Dichter durchaus beabsichtigte Sonderstellung ein. Vor dem Hintergrund und in Verknüpfung mit einem großen fürstlichen Jagdereignis wird das ländliche religiöse Leben hier zum zentralen Thema.
Die von Bernhard Dieckmann vorgelegte Interpretation des „Beschriebenen Tännling“ schließt frühere Deutungen (u. a. Steffen 1955, Zink 1967, Pörnbacher 1998, Mayer 2001, Praxl 2011) bewusst ein, geht aber in der Detailanalyse weit darüber hinaus. Die Volksfrömmigkeit, sonst bei Stifter wie in der „Mappe“ oder der „Charwoche“ eher illustrativ behandelt, tritt dabei in den eigentlichen Blickpunkt und bietet zugleich einen Schlüssel zur Erzählung selbst. In konsequenter Textbegleitung bietet der Autor eine Gesamtschau. Die zahlreichen topographischen Gegebenheiten mögen zunächst beliebig erscheinen, als folgten sie aus Stifters optisch orientiertem Beschreibungsdrang. Aber ihnen wird eine wichtige Funktion für die Deutung der Erzählung zugemessen. Vor allem ist mit der erhellenden Aufdeckung der Sinnbezüge zwischen äußeren Handlungselementen und seelischer Verfasstheit wie innerer Dynamik Schritt für Schritt der Weg zum Verständnis dieser – auch von manchem heutigen Leser noch gelegentlich als naive Heimatgeschichte missverstandenen – Erzählung bereitet. Mit dem Ausblick auf tragende Erzählprinzipien und -intentionen Stifters erweist sich Dieckmanns Abhandlung darüber hinaus als maßgeblicher Beitrag für einen sachgerechten Zugang zu weiteren Werken des längst anerkannten Dichters der Weltliteratur „aus dem alten Österreich“.
Berlin, im Januar 2014
Widmung und Danksagung
Ich widme diese Studie dem Andenken Carsten Heinrichs aus Fulda. Er hat mehrere Jahre die Bibliothek des Katholisch-Theologischen Seminars Marburg betreut; 1999 verfasste er seine Staatsarbeit über den „Beschriebenen Tännling“. Im Februar 2009 verstarb er – noch keine vierzig Jahre alt – nach längerer, schwerer Krankheit.
Bei der Abfassung und Herausgabe dieser Studie habe ich vielfältige Hilfe erfahren. Herzlich bedanken möchte ich mich bei Herrn Prof. Dr. Volker Mergenthaler in Marburg für die genaue Lektüre einer frühen Fassung, für seine Ermutigung, seine Korrekturen und Hinweise; bei Herrn Dr. Arthur Brande von der „Rheinischen Adalbert Stifter-Gemeinschaft“ in Berlin für sein förderndes Interesse, die vielen Ratschläge und Auskünfte, nicht zuletzt auch für das Vorwort zu dieser Arbeit; bei Herrn Paul Praxl in Waldkirchen für seine bereitwilligen Auskünfte, Fotokopien und Literaturhinweise, nicht nur zur Lokalgeschichte von Oberplan; bei Herrn Prof. Dr. Jörg Disse und den anderen Herausgebern in Fulda für die Aufnahme dieser Studie in die Reihe der „Fuldaer Hochschulschriften“; bei Herrn Dr. Markus Lersch und Frau Dorothee Weber vom Katholisch-Theologischen Seminar in Marburg für ihren Einsatz und ihre Sorgfalt bei der Schlussredaktion; bei vielen Freunden und Verwandten, die die verschiedenen Entwürfe gelesen und manche Formulierung korrigiert oder präzisiert haben. Es war mir eine große Hilfe, dass sie sich für meine Arbeit am „Beschriebenen Tännling“ interessierten, auch wenn sie weder Theologen noch Germanisten sind.
Einleitung
Der „Beschriebene Tännling“1 ist seit seinem Erscheinen oft kritisiert worden. Die erste Fassung von 1846 im „Rheinischen Taschenbuch“ charakterisiert Annette von Droste-Hülshoff