Auftakt
Schon seit Wochen quälte mich die Hüfte. Dieses Mal versagte die Spritzkunst meines Orthopäden und die Schmerzen hielten mich fest im Griff. „Wir röntgen einmal. Besser ist besser.“ Nachdem ich aus der Strahlenkammer entlassen war, präsentierte er mir das Ergebnis. Sein Medizinerlächeln war verflogen. „Ja, die Aufnahme zeigt am Oberschenkelknochen eine Verdickung. Da sitzt etwas, das dort nicht hingehört.“ Der Arzt hielt die Aufnahme gegen das kalte Neonlicht. „Sehen Sie es auch?“ Er half mit seinem Stift nach, um mir die Konturen einer Ausbuchtung zu zeigen. Wie ein Kropf hatte sich am Knochen etwas Unbestimmtes festgekrallt. „Auf keinen Fall gehört es hier hin. Es kann alles Mögliche sein. Eine Ablagerung. Kalk. Ein altes Hämatom. Ich weiß es nicht. Dafür ist eine Röntgenaufnahme zu ungenau.“ Er hatte das durchsichtige Bild noch in seinen Händen. „Ich schicke Sie in eine radiologische Praxis. Knochenkrebs wollen wir auf jeden Fall ausschließen.“
Das für mich entscheidende Wort war gefallen. Knochenkrebs. Mich beschäftigte nur noch das Röntgenbild, auf dem ich jetzt deutlich einen Tumor sah. „Also, ich schicke Sie zum Kollegen Dr. Kranz. Er macht ein CT des Oberschenkels. Danach wissen wir exakt, um was es sich handelt.“ Im Moment wollte ich es gar nicht wissen. Mir gingen Menschen durch den Kopf, die ich seelsorgerisch betreut hatte und die qualvoll an Krebs gestorben waren. Brustkrebs, Hautkrebs, Darmkrebs, Magenkrebs, Prostatakrebs und Knochenkrebs, ich zählte innerlich die Krebsarten auf. Noch in der Praxis malte ich mir aus, wie es mir ergehen würde. Der Doktor munterte mich auf, aber ich überhörte ihn. „Es wird alles ganz harmlos sein. Sie hatten doch früher mit Kalkablagerungen zu tun.“
Auf dem Nachhauseweg kam dem Priester Gott in den Sinn. Auf der Straße, mitten im lebhaften Verkehr, schlich er sich wie von selbst an mein Ohr. Wie oft hatte ich die Gottesfrage an Krankenbetten gehört. Wie bedenkenlos hatte ich geantwortet. Jetzt stand ich selbst einen Schritt vor dem Abgrund, obwohl es nur ein Zebrastreifen war, den ich überqueren musste. Innerlich redete ich mir zu. „Du bist 47 Jahre alt.“ Besser hätte ich gefragt, weshalb lässt er dann Jüngere sterben? Gott lässt sterben, Gott lässt qualvoll sterben, Gott berücksichtigt kein Alter. Für ihn gibt es kein Warum. Was bilde ich mir ein, von ihm besonders beschützt zu sein.
Ein paar Wochen später lag ich beim Radiologen in der Röhre. Der enge Schlund machte mich nervös. Lebensangst schlug in Platzangst um. Den Bericht erhielt ich ein paar Tage später. „CT-morphologisch handelt es sich unter Berücksichtigung der bisherigen mikrobiologischen und zytologischen Ergebnisse um ein altes, abgekapseltes und am Rande verkalktes Serom.“ Die Auskunft im alten Gesundheitsbuch war eindeutig. „Serom: Wundflüssigkeit bildet eine Ausbuchtung und schließt sich ab.“ Der Radiologe punktierte sofort den lästigen Zuwachs und versprach mir, dass die Schmerzen innerhalb von Stunden verschwinden würden.
Auf dem Weg nach Hause lief es sich bedeutend leichter und schneller als vor Wochen. Das Leben auf der Straße machte Spaß, und ich genoss es, den Zebrastreifen aufmerksam zu überqueren. Den Oberschenkel spürte ich schon nicht mehr. Irgendwie fing mein Leben wieder an. In drei Jahren würde ich meinen 50. Geburtstag feiern. Gott hatte ich verdrängt. Dabei durfte ich ihn nicht so einfach davonkommen lassen. Heute hatte ich gewonnen, aber wie werde ich reagieren, wenn ein Arztbericht anders schließen wird: „Die CT-Aufnahme und die zytologische Untersuchung ergaben einen schnell wachsenden Tumor. Sofortige operative Entfernung ist angezeigt.“ Eine solche Diagnose steht mir noch bevor. Während ich damals nach Hause hüpfte, schlichen andere Patienten tieftraurig von dannen. Ihnen galt das, was ich befürchtet hatte. In ihrem Interesse muss die Frage nach Gott wachgehalten werden. Vielleicht hätte ich sie anders stellen müssen. „Warum hat Gott mich jetzt verschont und die anderen ans Messer geliefert? Warum bin ich noch einmal davongekommen?“
Letztlich sind es die Fragen, die ich in meinem Beruf zu beantworten habe. Zumindest sind sie mir vertraut, obwohl alle meine Antworten bisher Versuche blieben. Als Prediger gehe ich sonntäglich mit Gott um, und ich tue so, als ob er mir vertraut wäre. Dabei bleiben die offenen Fragen: Wer ist überhaupt Gott, wie ist Gott und wo ist Gott? Was finde ich über ihn in der Bibel? Was erzählt Jesus von Gott? Jeder Schritt zum Ambo vermehrt die Fragen, deren Bearbeitung für einen Theologen Pflicht ist. Schließlich sollte die Theologie eine Antwort auf die Gottesfrage versuchen. Als ich die Stichwortzettel meiner gehaltenen Predigten auf das Thema ‚Gott‘ hin durchlas, fielen mir Lebensgeschichten ein. In ihnen passierte nichts Außergewöhnliches, mein Alltag verlief in normalen Bahnen. Trotzdem kamen sie mir in den Sinn, und ich bin davon überzeugt, dass sie mit Gott zu tun haben, ohne ihn ausdrücklich zu benennen. Die Predigten will ich aufschreiben, die Geschichten erzählen und die Bibel sprechen lassen, damit meine Beschäftigung mit Gott nachhaltig wird und ich mich gegen Ende meines Lebens nicht selbst vergöttern muss. Ich gebe zu, mein Gottesbild ist einseitig, aber welches Gottesbild ist das nicht. Gestrenge Dogmatik wird viele Aspekte vermissen. Bei mir hat es gereicht, um ein wenig zu glauben und zu hoffen.
Kriegsfolgen
Der Krieg war noch nicht lange vorbei. Vielleicht lag er zehn, elf oder zwölf Jahre zurück. Ich war acht, neun oder zehn Jahre alt. Meine Mutter hatte einen Wunsch. Sie wollte unbedingt einmal nach Malmedy. Als Aachener hatte ich den Namen der belgischen Kleinstadt öfters gehört. Sie liegt jenseits des Hohen Venns. Dort sprechen die meisten Einwohner Französisch, nur wenige Deutsch. Von daher galt das Städtchen für mich als Ausland. In Malmedy waren der Krieg und die Grausamkeit der deutschen Besatzung unvergessen, und uns Deutschen fehlte dort nicht nur die Sprache, mit Vergebung konnten wir genauso wenig rechnen. Nachbarschaftlichen Respekt hatte Deutschland schon zu Kriegsbeginn verloren.
In der Stadt angekommen, suchte meine Mutter sofort eine bestimmte Adresse. Wie sie daran gekommen war, wusste ich nicht. Viele Straßen gab es im Zentrum nicht. Auf jeden Fall hing der Wunsch meiner Mutter nicht an der Stadt, sondern an der Straße und einer bestimmten Hausnummer. Sie musste gefunden werden. Vorher wollte sie nicht zurückfahren. Stotternd fragte sie sich durch und fand ihr Ziel, die rue la vaulx, eher eine Gasse, die von geduckten, schmalen Häusern gesäumt wurde. Mit zwei Stockwerken und manchmal mit einer Dachgaube zwängte sich ein Haus an das andere. Ohne Frage, sie waren in Ordnung und wirkten durch eine Schieferabdeckung sauber. Langsam zählte meine Mutter die Hausnummern ab. Dichte Gardinen und trübe, ungeputzte Scheiben verhinderten den Blick in das Wohnzimmer. Plötzlich blieb meine Mutter vor einem Häuschen stehen. Sie hatte auf dem Klingelschild einen Namen gelesen: „Hier ist es.“ „Was ist hier?“, fragte ich naiv. „Hier wohnt Eugen!“ „Du meinst, hier war Eugen zu Hause?“, ergänzte mein Vater. „Genau!“ Ich hörte nur Eugen. Ihn kannte ich nicht. Zu Hause war nie von ihm gesprochen worden. Ein Nachname fiel nicht. Ob Eugens Eltern noch leben, überlegte meine Mutter, ohne den Klingelknopf zu drücken. Mein Vater und ich standen mitten auf der Straße und beobachteten die Szene. Hinter den Tüllgardinen schien sich nichts zu rühren. Die schweren Vorhänge hingen ruhig, und Gummibäume rankten sich hoch. Alles blieb still. „Es scheint keiner zu Hause zu sein“, meinte mein Vater. „Ich wollte sowieso nicht klingeln.“ Ich verstand Mutter nicht. Zuerst wollte sie unbedingt nach Malmedy, dann fand sie, was sie suchte. Aber das reichte ihr.
Jahrzehnte